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1 www.fridolin.ch
Freitag, 3. Juli 2020
Heil dir, Helvetia!
oder
L’ Elvezia bellinzonese
sulle scale per la stazione di Bellinzona
Auf dem Treppenzugang zum SBB-Bahnhof Bellinzona grüsst eine nicht zu übersehende Statue eine Frauengestalt in Stein gehauen. Leider ist diese Skulptur nicht beschriftet, noch weiss man auf der Station SBB Genaueres.
Solches ist für mich eine Herausforderung, mich auf den Weg zu machen und zu versuchen, mehr über diese markante Frauenfigur zu erfahren.
Erst kam ich in Gespräch mit einem Jugendfreund, der im Nachbarhaus aufgewachsen war und heute - berufsbedingt - seit Jahren in Bellinzona wohnt. Da er nicht sofort Auskünfte bekam, blieb unser Wissensdurst wieder auf der Stecke. Doch bei einem kürzlichen Wiedersehen flackerte die alte Frage wieder auf. Mit neuem Elan wollten wir der Frage auf den Grund gehen: Wo gibt es Informatio-nen über die erwähnte Helvetia beim Bahnhof Bellizona?
Zuerst konsultiere ich das Internet: Nichts! Doch, plötzlich tauchte eine Helvetia
von Bellinzona auf, aber nicht die gemeinte. Das Hotel Liberty Garni, Vicolo Nord 1, 6500 Bellinzona, ein seit 2016 neu aufgebautes Hotel, 3 km südlich des Stadtzentrums Bellinzona, hat auf der Terrasse eine Helvetia aufgestellt.
Das nächste Fundstück war eine Nachtaufname, die aber lizensiert, das heisst nicht einfach ohne Bewilligung kopierbar ist. Aber es war die richtige Helvetia.
Am Tag darauf begann ich herumzutelefonieren und Emails zu versenden, so wie ein Fischer ein Netz auswirft.
Bei Bahnhof Bellizona fand ich keinen Ansprechadresse, telefonierte dann mit der Generaldirekton der SBB in Bern. Ein sehr freundliche Telefonistin gab mir eine Email-Adresse des Liegenschaftsunterhalts der Bahnhofanlage. Signor Philippo Mengoni rief liebenswürdigerweise zurück und bekannte, das Kunstwerk sei ausserhalb seiner Zuständigkeit, ich solle mich doch an die Citta di Bellinzona wenden. Doch dort war bereits der Telefonbeantworter, der auf die Öffnungszeiten verwies.
Nanu, dann versuchte ich es per Email bei der Kulturabteilung, eine Adresse, die gerne weiter empfehle; denn da kam von Signora Elisabetha Peduzzi vom dicastero educazione e cultura della Città di Bellinzona wie eine Offenbarung die Antwort:
L’Elvezia in cammino – Piazzale Stazione Bellinzona
(Helvezia auf dem Weg - Kleiner Bahnhofplatz)
“Pro Ticino si fece promotrice nel 1942 di un monumento da posare a Berna per ricordare il consigliere federale ticinese Giuseppe Motta (1871-1940). Venne indetto un concorso vinto da Remo Rossi. L'opera proposta, che rappresentava una donna svestita, creò però vari problemi, al punto da rimanere “inesposta” per quasi tre lustri. La scultura, in granito di Castione di 4 metri di altezza, rappresenta l'Elvezia in cammino. Essa trova finalmente spazio il 15 settembre 1957 sul piazzale della stazione a Bellinzona. Da allora domina sul piazzale e sul viale della stazione.”
Übersetzung:
„Pro Tessin förderte ein Denkmal, das 1942 in Bern errichtet werden sollte, um dem Tessiner Bundesrat Giuseppe Motta (1871-1940) zu gedenken. Ein Wettbewerb wurde von Remo Rossi gewonnen. Die vorgeschlagene Arbeit, die eine unbekleidete Frau darstellte, verursachte jedoch verschiedene Probleme, so dass sie fast drei Jahrzehnte lang "unbekannt" blieb. Die 4 Meter hohe Skulptur aus Castione-Granit repräsentiert die Reise von Elvezia. Am 15. September 1957 fand sie schliesslich einen Ort auf dem Bahnhofsplatz in Bellinzona. Seitdem hat sie den Platz und die Strasse zum Bahnhofs dominiert.“
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Also, wer sag’s denn!?
Folgende Fakten sind nun ruchbar geworden:
1. Die Skulptur hat einen politischen Hintergrund und wäre eigentlich
eine Ehrung in Bern für den Tessiner Bundesrat Giuseppe
Motta
gewesen.
Giuseppe Motta
* 29. Dezember 1871 in Airolo; † 23. Januar 1940 in Bern; heimatberechtigt in Airolo; ein Schweizer Politiker (KVP). Ab 1895 war er im Grossen Rat des Kantons Tessin, ab 1899 auch im Nationalrat.
Nachdem er 1908 die Wahl in den Bundesrat nicht geschafft hatte, gelang ihm dies drei Jahre später. Von 1912 bis 1919 stand er dem Finanz- und Zolldepartement vor, 1920 bis zu seinem Tod 1940 das politische Departement und prägte zwei Jahrzehnte lang die Aussenpolitik der Schweiz entscheidend mit. Er engagierte sich erfolgreich für den Beitritt der Schweiz zum Völkerbund, der Idealismus der ersten Jahre wich jedoch allmählich realpolitischen Sachzwängen. Motta stellte die Neutralität wieder in den Vordergrund und versuchte gleichzeitig, die guten Beziehungen zum nationalsozialistischen Deutschen Reich und zum fa-schistischen Italien aufrechtzuerhalten. Seine Amtszeit von 28 Jahren ist die drittlängste aller Bundesräte, fünfmal hatte er das Amt des Bundespräsidenten inne. (aus: Wikipedia)
2. Technische Daten der Skulptur "Helvetia auf Reise"
Höhe der Statue: 4 Meter
Material: Castione-Granit
Infos zum Castione-Granit
Entstehung
Castione entstand vor rund 200 bis 250 Mio. Jahren aus kalkig-tonigen Meeresablagerungen, die durch Überlagerung mit weiteren Sedimenten und durch zunehmende Kompaktion zu Kalk-Mergel·Wechsellagen verfestigt wurden. Während der alpinen Gebirgsbildung vor.und 35 Mio. Jahren wurden die Kalk- bzw. Mergellagen im Erdinnern (Tiefe von ein paar Kilometern) durch erhöhten Druck und Temperatur (Metamorphose) in Marmor bzw. Kalksilikatfels umgewandelt und durch Hebungs- und Erosionsprozesse an die Erdoberfläche gebracht.
Beschaffenheit
Der Marmorzug von Castione besteht aus fein bis sehr grobkömigen Marmoren, marmorisierten Kalken und Sandkalken sowie aus eigentlichen Kalksilikatgneisen mit Einschaltungen von biotitreichen Gneisen, Amphiboliten und Pegmatitgängen. Die grobkörnige Varietät weist neben Kalzit grünschwarze, säulige Diopsidkristalle und goldbraunen Dunkelglimmer (Phlogopit) auf. Die grauweissen Lagen der feinkörnigen Varie-tät bestehen aus Kalk, Ouari und Feldspat, die graugrünen sind besonders reich an Oiopsid und die braune weist einen hohen Biotitgehalt auf. Die eingestreuten Granate haben einen Durchmesser von bis zu 10 mm.
Vorkommen
Der steilstehende West-Ost streichende Marmorzug von Castione quert das Tessintal und das untere Misox nördlich von Bellinzona. Er bildet die Südgrenze der Simanodecke und die Nordgrenze des Cima Lunga-Lappens und ist bei Castione etwa 800 m mächtig. Die Abbaustellen befinden sich am Fuss des Bergrückens, der die Riviera vom Misox trennt.
Castionemarmor hell (Castione bianco)
Kalzit, goldbrauner Dunkelglimmer (Phlogopit) und grünlicher Diopsid
Aus dem südlichen Teil des Castionezuges werden die grobkörnigen Marmore gewonnen: weiss-grau gestreifter stark strukturierter silikatführender Marmor einerseits mit grossen grünschwarzen säuligen Diopsidkristallen und andererseits mit goldbraunen Glimmern (PhlogoPit). Der Marmor kann gemischt verwendet oder nach Struktur aussortiert wer-den. Der Abbau erfolgt im südlichen der beiden Brüche am breiten Sporn zwischen der Riviera und dem Misox unmittelbar nördlich der Ortschaft
Castione.
Der Steinbruch in Castione nördlich von Bellinzona wurde 2015 aus wirtschaftlichen Gründen geschlossen.
Castionegranitdunkel (Castione nero)
Kalzit, Quarz, Plagioklas, Skapolith, Biotit, Diopsid und rotbrauner Gra-nat.
Aus dem zentralenTeil des Castionezuges wird der als Castione nero oder Granito nero bezeichnete Kalksilikatgneis gewonnen, welcher aus einer feinkörnigen, wechsellagig grauweissen, graugrünen und braunen Matrix besteht, in welche rote Granatkörner mit Durchmesser von 2 bis 10 mm eingelagert sind. Die feinkörnige Grundmasse besteht hauptsächlich aus Kalkspat, Quarz, Plagioklas und/oder Skapolith, während die graugrünen Lagen besonders reich an Diopsid sind und die braune Grundmasse einen grossen Biotitgehalt aufweist. Die roten Granate sind durchwegs von anderen Mineralien durchsetzt.
(Quelle: www.nvu.ch)
3. Der Künstler Remo Rossi (29. Sept. 1909 bis 30. Dez. 1982)
Remo Rossi (1909-1982)
stammt aus einer Bildhauerfamilie in Arzo.
Gymnasium in Locarno.
1926 Kunstgewerbeschule in Luzern.
1927 bis 1931 studiert er Anatomie, Design und Architektur an der Mailänder Kunstakademie Accademia di Belle Arti di Brera.
1932 und 1933 studierte er in Paris an der École des Beaux-Arts sowie an der Académie Scandinave bei dem Bildhauer Charles Despiau; dieser erkennt sein Talent und veranlasst ihn, die Akademie zu verlassen und allein in seinem Atelier weiterzuarbeiten, wo er ihn regelmässig besucht und berät.
Eine seiner ersten Bronzeskulpturen (Adolescente, entstanden 1934) wird im Salon des Tuileries ausgestellt und in der Kunstzeitschrift Arts reproduziert.
Bereits 1935 wird er zu Ausstellungen nach Brüssel und Amsterdam eingeladen.
1936 kehrt er nach Locarno zurück und unternimmt ausgedehnte Reisen durch Europa.
1943 heiratet er Bianca Bernasconi.
1945 wird er Mitglied der Eidgenössischen Kommission für Denkmalpflege.
Ab 1962 ist er permanenter Kommissär und Beauftragter als Vertreter der Schweiz an der Biennale von Venedig
Remo Rossis künstlerisches Werk
kann man in die klassische Periode (bis 1962), in die geometrische Periode (bis 1975) und in die Periode der Verfeinerung einteilen. Es umfasst unter anderem Skulpturen, Plastiken, Reliefs, Kunst am Bau sowie Zeichnungen.
Einen bedeutenden Bereich nimmt die sakrale Kunst ein. So schafft er beispielsweise 1951 für die Pfarrkirche von Courfaivre, für die Fernand Léger die Glasfenster und Jean Lurçat den Wandteppich erstellen, den Tabernakel und 1974 eine Gruppe von Bronze-Skulpturen für die Heilig-Kreuz-Kirche in Langnau im Emmental. Remo gewinnt zahlreiche Preise, unter anderem 1973 und 1977 den ersten Preis bei der „Internationalen Ausstellung für Skulptur“ in Madrid sowie Wettbewerbe, so 1943 für das Denkmal von Giuseppe Motta. Zusammen mit Battista Ratti gewinnt Remo 1954 den Wettbewerb für das 25- und 50-Franken-Stück.
Remo ist u. a. befreundet mit dem italienischen Bildhauer Lucio Fontana, sowie mit Hans Arp und mit Jakob Probst, mit denen er zeitweilig in Locarno zusammenarbeitet.
2009 wird in Locarno die „Stiftung Remo Rossi“ (Fondazione Remo Rossi) gegründet. Sie bietet jungen Talenten Stipendien und Arbeits-aufenthalte in den früheren Atelierräumen und fördert Studien über Werk und Person Remo Rossis.
Was die Hintergründe der Zeitspanne von 1942 (Rossi gewinnt den Wettbewerb) und der Einweihung am 15. September 1957 - also 15 Jahre - betrifft, ist mir derzeit noch unbekannt. Gewiss war es in den Jahren des Zweiten Weltkrieges (1939-45) schwierig, solche Skupturen zu erstellen, was aber dann doch zu eine Realisierung führte,steht wahrscheinlich noch in politischen Protokollen.
Die Liste der Ausstellungen
zeigt, dass Rossi auch einmal in Glarus ausgestellt hat.
· 1969: Szépművészeti Múzeum, Budapest
· 1968: Aargauer Kunsthaus, Aarau
· 1967: Palais Schwarzenberg am Schwarzenbergplatz, Wien
· 1965: Kunstmuseum Bern
· 1963: Musée Rodin, Paris
· 1963: Kunsthaus Zürich
· 1961: Museu de Arte Moderna do Rio de Janeiro
· 1961: Kunstmuseum Luzern
· 1960: Kunsthaus Glarus
· 1960: Salzburger Dom
Werke im öffentlichen Raum
1951 Pfarrkirche Courfaivre Tabernakel Bronze 160 cm hoch
1958 Revoltella-Museum Triest Bozzetto Cenaclo Bronze 115 cm hoch
1958 Museum der modernen Toro tento Bronze 45 cm hoch Kunst,
Venedig
1974 Kirche Heilig Kreuz Altar, Kruzifix, Tabernakel, Marienstatue und
Ambo Langenthal im Emmental, Bronze unterschiedliche Höhen
Ein ausführliches Werkverzeichnis (bebildert) finden Sie unter
https://fondazioneremorossi.ch/index_de.htm
Literatur
· Luigi Carluccio (Hrsg.): Remo Rossi. (Deutsch und Italienisch, Texte:
Piero Bianconi und Paul Erni). Edizioni Casagrande Bellinzona, ABC
Verlag, Zürich 1978, ISBN 3-85504-051-6.
· Paul Erni: Tage mit Remo Rossi. Skizzen und Aufzeichnungen. Verlag
Locarno: Carlo Speziali, Locarno 1975, ISBN 351838600X.
· Matthias Oberli: Remo Rossi. In: Historisches Lexikon der Schweiz. 5.
Januar 2012, abgerufen am 12. Januar 2020.
· Diana Rizzi: Remo Rossi. (Schweizerische Kunstführer, Nr. 909, Serie
91). Hrsg. Gesellschaft für Schweizerische Kunstgeschichte GSK. Bern
2012, ISBN 978-3-03797-060-7.
Die Stiftung Remo Rossi hat im ehemaligen Wohnhaus des Künstlers
ein Museum errichtet
Koordinaten:
Stiftung Remo Rossi
Via Rusca 8, 6600 Locarno
Tel: +41 91 751 2166
info@fondazioneremorossi.ch
www.fondazioneremorossi.ch
Wenig bekannter Tessiner Bildhauer
Dreissig Jahre nach dem Tod Remo Rossis vermittelt eine Ausstellung in der Casa Rusca in Locarno ein vielseitiges Bild dieses überaus produktiven und auch kulturpolitisch aktiven Bildhauers. Die Stiftung hat dafür gesorgt, dass neben dem Ausstellungskatalog ein Schweizerischer Kunstführer herausgegeben werden konnte, der die im Kanton Tessin im öffentlichen Raum zu sehenden Werke Rossis vorstellt.
(NZZ 10.10.2012)
Fotos von Remo Rossi
(Quelle: foindatione Remo Rossi)
Schluss
Eine kräftiges "Heil dir, Helvetia!" ist am Platz. Aus der Ungewissheit und Unwis-senheit sind ein paar Fakten zusammengekommen. L'elvezia bellinzonese hat zu ihrer Imposanten Gestalt einen Steckbrief, Hintergrund und "Leben" bekommen.
Es wäre eigentlich höchste Zeit, dass die Città di Bellinzona ein so imposantes Stück Kultur mit mindestens einen Täfelchen würdigt:
"L' elvezia in cammino
di Remo Rossi (1909-82)
progettato 1942
fatto 1957
Città di Bellinzona"
Gerichtsverhandlung wegen übler Nachrede:
7. Dezember 1945: www.servat.unibe.ch/dfr/pdf/c4071225.pdf
Antonius – Magadino
„Sant Antoni, da chel pedü,
fam trova chel che ho perdü!
Sant Antoni dalla barab bianca,
fram trovà chel che ma manca!”
mitgeteilt von Signora Mistica Pasinetti* casa della molina, Megadina
*nato à Orgnana
geschrieben 18.7. 2003
Angeregt durch die Begegnung mit der hochbetagten Signora Pasinetti in der Wartezeit vor einem Orgelkonzert in der Chiesa di Magadino, die mir diesen Antoniusvers aus ihrer Jugendzeit überlieferte, ist auch das nächste kleine Mundartgedicht entstanden
Sant Antoni, hilf!*
Sant Antoni vu Padua!
Ich rüäf-di immer aa,
wän-i öppis verlora ha.
Hilf mer, guätä Maa!
Sant Antoni vu Padua!
Ich bitt-di hütt und hiä,
zäig-mer, wo-n-i gu suächä chaa
und gad ä nuch wiä!
Sant Antoni vu Padua!
Ich säg-dr iätz schu tanggä !
Wänn’s dä fürä chunnt, gib-dr drnaa
Gäärä-n-äs paar Franggä:
-y.
*Antonius von Padua galt in meiner Kindheit als Helfer, wenn man etwas verloren hatte. Die Mutter empfahl stets, Antonius anzurufen und ihm etwas zu versprechen. Doch müsse man das Versprochene einhalten, sonst helfe er nicht mehr.
Tessiner Nacht...
Dr Gambaronjo grooss und schwäär
liit schwarz äm Längäsee
und macht ä Puggel we-nä Bäär,
wo dett chaasch schlaaffä gseeh
Dr Himel abr, deer isch zuä,
kä Schtäärnä und kä Muu;
’s isch müüslischtill’ i äiner Ruäh,
und ä-kä Wind wil guh.
Nu Liächtli gseesch we Chrischbaumschmugg,
dr Schtruuch im Gaartä schmöggt;
dr Härgott sälber hätt äs Schtugg
vu Wält daa härä ghöggt.
-y.
Anfangs 2000 - Ferieneindruck
Ticino storico
oder
Kleiner Streifzug durch die Geschichte des südlichsten Kantons
Für Deutschschweizer ist das Tessin Sonnenstube und Inbegriff der Sehnsucht nach dem Süden. Viele haben dort Ferienhäuser, andere verbringen ihre Sommerferien in Hotels, Mietwohnungen oder auf Campingplätzen. Das Klima, die italienische Sprache, die medi-terrane Vegetation, reizvolle Landschaften, die Tessiner Küche und liebenswürdige Men-schen locken zu Tessinaufenthalten. Doch über die Tessiner Geschichte weiss man eigent-lich recht wenig.
Dabei deuten Spuren erster Besiedelung um Bellizona auf 4000 vor Christus zurück. Um 1000 vor Christus wanderten Ligurier aus Oberitalien in die Tessiner Täler ein. 600 Jahre später drangen aus der Lombardei Kelten vom Stamme der Lepontier ins Tessin vor. In der Po-Ebene wurde Mediolanum (Mailand) keltische Hauptstadt.
Erst 196 v. Chr. eroberten die Römer Comium (Como) und stiessen bis Arbedo bei Bellin-zona vor. In dieser Zeit entstanden die Befestigungen, in deren Schatten sich Billitionis (Bellinzona) entwickeln konnte. Campione wurde römische Gardison, Brissago Sommersitz reicher Familien. Unter Kaiser Augustus (31-14 v. Chr.) nahmen römische Truppen alle Tessiner Täler und den San Bernardino Pass ein. Ziel war die Sicherung dieses Übergangs in den Norden für Handel und Militär. Die ganze Region unterstand dem Municipium Medio-lanum (Mailand).
Im vierten Jahrhundert nach Christus predigten Glaubensboten aus Mailand und Como bis in die Alpentäler das Christentum. Bischof Ambrosius verbreitete einen besonderen Ritus, den die “ambrosianischen Täler“ Blenio, Leventina und Riviera bis in die Gegenwart pflegten.
Karl der Grosse (773/74) integrierte die Lombardei ins fränkische Reich mit der Hauptstadt Ticinum (Pavia). Como erhielt eine Sonderstellung und beherrschte Bellinzona und Teile des Sopraceneri. 962 einverleibte Kaiser Otto I. das Ganze ins „Heilige Römische Reich Deutscher Nation“.
1154 zog Kaiser Friedrich I. Barbarossa (Rotbart) zum ersten Mal über den Lukmanier, um territoriale Streitigkeiten militärisch zu regeln. Weitere Feldzüge folgten, doch 1176 wurde Barbarossa bei Legnano von der Lombardischen Liga, das waren mehrere Städte unter Führung von Mailand, besiegt. Sechs Jahre später schlossen die Bleniotaler und Leventiner einen Pakt gegen die kaiserlichen Vögte.
Im 13. Jahrhundert bekämpften sich kaisertreue Ghibellinen und papsttreue Guelfen (Wel-fen). Die Kaiserlichen siegten und beherrschten das Tessin. Künftig trieben sie für den Kai-ser die Zölle ein und übten Marktrechte aus. Um 1250 tauchte die aus Mailand vertriebene Familie Rusca auf und liess sich in Locarno nieder. Von dort aus weitete sie den Einfluss auf Como, Lugano und Bellinzona aus. Anno 1290 wurde der Gotthardpass gebaut. Die Leventiner kontrollierten nun den Warentransport und trieben die Zölle ein. 1291 entstand mit dem „Rütlischwur“ ein neuer Kleinstaat, die wachsende Eidgenossenschaft. 1330 hatten die Urner die hohen Zölle satt und fielen in die Leventina ein. Franchino Rusca leistete ver-geblich Widerstand. Der Pass wurde durch einen Pakt zollfrei.
Neuen wirtschaftlichen Aufschwung brachte der Machtwechsel der Mailänder Familie Visconti. Sie behändigten sich der Stadt Como und übernahmen die Herrschaft über das Tessin. Siebzig Jahre später nahmen die Leventiner das Schutzangebot der Urner und Unterwalder an, um von Mailand weniger abhängig zu sein. Die Eidgenossen zogen in der Folge nach Bellinzona und kauften von der Familie Sax für 2400 Gulden die Gebiete bis zum Monte Ceneri. Das liess sich Filippo Maria Visconti nicht bieten und eroberte diese Ländereien wieder zurück. 1422 drangen die Urner und Unterwaldner mit eidgenössischen Verbündeten erneut bis gegen Bellinzona vor, wurden aber in der Schlacht bei Arbedo ver-nichtend geschlagen. Im „Frieden von Bellenz“ verzichteten die Eidgenossen 1426 auf alle Gebiete, ausser auf die Leventina, die für zehn Jahr zollfrei blieb.
Als 1478 die Visconti ausstarben und durch die Sforza abgelöst wurden, marschierten die Eidgenossen erneut bis zum Monte Ceneri und schlugen das Heer der Sforza in der „Schlacht der Steine“ bei Giornico. Im folgenden „Frieden auf dem Castello Mesocco“ wurde die Leventina urnerisch, später folgten das Bleniotal und die Riviera.
1500 drangen die Franzosen ins Tessin ein. Bellinzona schloss sich den Urkantonen an. Die Burgen Uri, Schwyz und Unterwalden wurden aufgeteilt, ein Urner wurde erster Vogt. Querelen zwischen Papst, Kaiser, Franzosen, Spanier und Eidgenossen um Mailand und die lombardischen Territorien bestimmten die Szene. Die Eidgenossen waren auf der Seite von Papst Julius II., eroberten Pavia und schlugen die Franzosen 1513 bei Novara. Doch 1515 erlitten sie bei Marignano eine vernichtende Niederlage durch das französische Heer Königs Franz I.
1516 sprach der „Ewige Frieden von Fribourg“ den Eidgenossen endgültig das Tessin zu: Lugano, Locarno, das Mendrisiotto, das Maggiatal, Chiavenna und das Veltlin. Rund 300 Jahre besetzten sie diese Vogteien. Auch Glarner nutzten diese „Kolonien“ ergiebig.
Der Reformation folgte die Gegenreformation im Gebiet der Lombardei und in den Alpen-tälern vor allem durch den Mailänder Erzbischof Karl Borromäus. Die Protestanten verlies-sen Locarno 1555. Sie zogen in den Norden, insbesondere nach Zürich, während Borro-mäus den Bau von Kapuzinerklöstern anriss. 1755 wurde ein Aufstand der Leventiner von den Urnern rigoro0s niedergeschlagen.
Das Blatt wendete sich entscheidend ab 1798. Napoleons Überfall auf die Eidgenossen-schaft brachte die Helvetische Republik, Bellinzona und Lugano wurden Hauptstädte der gleichnamigen Tessiner Gebiete. Aber erst 1803 wurden gemäss Mediationsakte 19 gleich-gestellte Kantone geschaffen, darunter auch das Tessin. Als Dank für die „Befreiung“ durch Napoleon erhielt das Kantonswappen die Farben der Stadt Paris. Napoleons Plan, das süd-liche Tessin Italien anzugliedern, wurde nach dem Fiasko des Russlandfeldzuges 1812 und der Völkerschlacht 1813 bei Leipzig nicht mehr ausgeführt. Der „Wiener Kongress“ hob die Mediationsakte wieder auf. Die Eidgenossen unterbanden militärisch die erste Tessiner Verfassung, sie hätte alle sechs Jahre Lugano, Locarno und Bellinzona als Hauptstadt vorgesehen.
Im Sonderbundskrieg 1845 kämpften die Tessiner an der Seite von General Dufour sieg-reich gegen die Innerschweiz. 1848 wurde das Tessin autonomer Kanton im neuen Bun-desstaat. Aber erst 1878 wurde Bellinzona endgültig zur Tessiner Capitale. Mit dem Bau der Gotthardbahn 1872-82 und dem Ausbau der Übergänge überhaupt kam neuer wirt-schaftlicher Aufschwung. Industrie fasste im armen, von Armut und Auswanderung geplag-ten Kanton Fuss. Rund 100 Jahre später wurde der 17-km-Gotthard-Strassentunnel einge-weiht und 1986 war der Tessiner Teil der N2 beendet. Basel bis Chiasso ist seither durch-gehend Autobahn.
1996 erhielt das Tessin die erste Universität. 2003 wurde der Monte San Giorgio, das Para-dies prähistorischer Fossilienfunde ins Inventar des UNESCO-Weltnaturerbes aufgenom-men.
Nicht zu vergessen: Das Tessin wurde zur Wahlheimat bedeutender Geistesgrössen der Dichtung, Malerei und darstellen Kunst. Gegenwärtig gilt das Tessin als Tourismuskanton erster Güte. Das 300‘000-Volk muss des Sommers die Invasion der Feriensuchenden ver-kraften. Allein das Locarnese ist während der Saison mit bis zu 60'000 Gästen „gesegnet“.
Ich geniesse den Vorzug, seit mehr als zwanzig Jahren im Tessin ein paar Tage verbringen zu dürfen. Das Tessin ist unerschöpflich und wird nie und nimmer ausgekundschaftet sein. Immer wieder gibt es dem, der die Augen offen hält, neue kleine und grosse Geheimnisse preis.
Bis bald! Ihr Pankraz F.
Nachtrag:
Das Jahrhundertereignis ist der Bau des längsten Eisenbahntunnels der Welt. In einer Bau-zeit von 2003 bis 2011 wurden die zwei
parallel verlaufenden Röhren von 57,1 Kilometer Länge (und Sicherheitsstollen) fertiggestelt mit dem Nordportal in Erstfeld und dem Süd-portal in Bodio. Das Bauwerk kostete 12 Milliarden Franken.
Die Eröffnungsfeierlichkeiten waren am 1. Juni 2016, fahrplanmässige Benützung ab 11. Dezember 2016.
Bildergalerie:
Oben: Tessiner Fahne (aktuell), Tessiner Fahne (geflammt). Ansichtskarte etwa 1900.
Unten: Tessiner Grenzstein (Nufenenpass), Tessiner Münzen von 1813.
(Bilder: www.wikipedia.ch, abgerufen am 31. Juli 2017)
Deng dü!
oder
Heb durä!
Den Tessinern kann man eine gewisse Grandezza nicht absprechen, was ihren Umgang mit verdienstvollen Künstlerpersönlichkeiten anbetrifft. Wir könnten uns da für unsere Glar-ner Kulturszene eine Scheibe abschneiden.
Drei Dörfer feiern einen Künstler! Magadino, Vira und San Nazzaro, lauter Orte am Gestade des Lago Maggiore – vis à vis von Locarno und Ascona. Der Mann heisst Edgardo Ratti und wird am 6. Oktober 2005 achtzig Jahre alt. Er hat die Welt verändert! Künstler verändern immer die Welt. Sie machen sie reicher, weil sie Dinge sehen, die gewöhnlich Sterbliche nicht sehen oder doch sehen, aber nicht in eine Aussagen umsetzen können. Edgardo Ratti spielte in den verschiedenen Phasen seines Lebens auf einer ganzen Klaviatur: Malerei, Bildhauerei, Glasfensterkunst, Mosaik und Wandmalerei.
Er ist Sohn eines Zöllners. Dieser musste öfters seinen Arbeitsort wechseln. Die Familie war dadurch gezwungen öfters zu zügeln. So kam der kleine Edgaro von Agno, wo er ge-boren wurde, nach Arogno, Arzo, Indemini, Brissago, Gerra-Gambarogno und Dirinella. Dies erzählte seine Schwiegertochter Beatrice. Beim Morgenkaffee im Ristorante Sargenti in Vira, wo sich das ganze Dorf trifft und austauscht. Sie ist an der Grenze des Glarnerlan-des aufgewachsen, in Reichenburg. Sie hat den prachtvollen Ausstellungskatalog ins Deutsche übersetzt, damit auch die Touristen nördlich der Alpen am ganz besonderen Event teilhaben können.
Was Rang und Namen hat, würdigt den Künstler: der Präsident der Gambarogno Arte, so nennt sich der Kunstverein, die für Kultur zuständige Regierungsrätin, mehrere renommier-te Kunstkritiker von den Medien, die teilweise sogar Schüler des Geehrten waren, der Präsident des eidgenössischen Versicherungsgerichts, selber ein Gambarognese. Alle unterstreichen sie in dieser Hommage im Katalog, der ein bibliophyles Buch geworden ist, die Wichtigkeit, dass eine Region Künstler braucht.
Der so Gefeierte besuchte das Gymnasium in Bellinzona, absolvierte das Zeichnungsleh-rerseminar in Fribourg und holte sich das künstlerisch Rüstzeug und Förderung seiner Talente in der renommierten Accademia delle Belle arti di Brera in Mailand.
Studienaufenthalte folgten von 1964-68 in Paris, Prag und London.
1948, erst 23-jährig, gründete er mit seinen Freunden Ezio Pelloni, Walter Sargenti, Manfredo Patocchi und Franco Gilardi den Circolo della Cultura del Gambarogno. Von 1951-1993 fanden insgesamt 14 Ausstellungen seiner Werke im In- und Ausland statt. Zwei Seelen wohnten in seiner Brust. Neben dem Künstler war da auch der Kunstanimator.1968 setzte er die erste „Scultura all aperto“ durch. Es folgten weitere von ihm geleitete Skulpturenausstellungen in Vira 1976, 1982, 1990, 1993, 1996. Dabei steigerte er diese Ausstellungen vom lokalen zum nationalen und gar internationalen Ereignis. Nicht mehr unter seiner Ägide, sondern unter Leitung des mittlerweile verstorbenen Harald Szeemann, war die letzte anno 2003. Die heurige ist ihm selber gewidmet. Der Luganeser Ludi Kessler und das Tessiner Fernsehen haben einen wunderbaren Dokumentarfilm geschaffen, in dem Edgar-do Ratti selber auftritt.
Zuerst gehe ich ins alte Zollhaus, die Sust, in Magadino. Unter den Steinbogen des hohen Lagerraumes, wo früher die Güter vom Schiff umgeschlagen und gelagert wurden, ist heute in kühler Atmosphäre ein Kunsttempel für Ausstellungen und ein Dorftheater (Teatro la Darsena). Rattis jüngste Werke sind ausgestellt. In der Mitte stehen in einer Vitrine ein Schuh und ein prächtiger überdimensionierter weisser Strohhut aus Alabaster. Der Kunst-appetit ist angeregt. Nur ein paar Sprünge weiter in Vira-Gambarogno begegnet man seinen Skultpuren an allen Ecken und Enden. Sie laden zum Innehalten, Lächlen, Staunen, Nachdenken, Kopfschütteln, bisweilen gar zum Spotten ein. Spätestens in der winzigen Kirche Santa Maria Maddalena verfällt man in ehrfurchtvolles Staunen. Hier sind seine Opere sacre aufgestellt, vornehmlich Kreuzigungsszenen, und schräg vis-à-vis des uralten Beichtstuhls läuft der erwähnte Dokumentarfilm. Auch Edgardo Ratti, der schlohweiss-haarige, braungebrannte Mann mit dunkler Brille und weissem Bart spricht. Er rollt sein "r " nicht, sondern spricht nicht von Vira, sondern „Vicha“, nicht von „Mostra d’ arte all’ aperto“, sondern von der „Mostcha d’ achte all’ apechto“. Der Kindergarten gleich ein Gässchen nebenan ist auf drei Stöcken von sämtlichen Möbeln ausgeräumt und in ein Kunstmuseum umfunktioniert. Die Enkelin Cateriana, selber in Ausbildung zur Designerin begriffen, „hütet“ die Werke ihres Grossvaters. Hier ergiesst sich ein ganzes Lebenswerk über den Betrach-ter. Mein Lieblingsbild, von dem ich mich fast nicht trennen kann, „Vira d’inverno“, ist leider nicht mehr käuflich. Es scheint mir wie die Konservierung des Ausstellungsmottos: „materia – acqua – luce“ auf eine Dimension, auf Schnee und Kontur.
Noch ehe ich durch seine spielerisch, schablonenhafte Plastik „Gioa di vivere“ am Laufsteg zum Dampfschiff den sich kräuselnden Lago Maggiore erspähe, und noch vor meiner Fahrt nach San Nazarro, dem dritten Austellungsort, wünsche ich mir intensiv, dem Künstler zu begegnen. Wer sich intensiv mit einer Person beschäftigt, wird mit ihr – so meine Erfahrung – zusammentreffen. Wer sagt's denn! Mitten im Dorf, dem ristorante Sargenti gegenüber kommt er! „Sie sind Signor Professore, il artista della mostra!“ Er lacht! “Si,si!”. Im Moment habe er keine Zeit, er müsse dringend eine Gruppe führen. Das Blitzgespräch reicht aber, ihm zu entlocken, dass er vor zwei oder drei Jahren in der Galerie Tschudi gewesen sei, um Werke von Rückriem zu sehen. Dieser habe der Gemeinde Vira ein Bild geschenkt. Weiter, dass sein Grossvater Uhrenverkäufer gewesen war. Der freundliche, eher klein gewach-sene Mann hat buschiges weisses Haar, einen schneeweissen Bart und gegerbt-braune Haut. Er trägt eine Schieberkappe und eine dunkle Brille. Sein Kleider sind hell, Stimme und Schritte sind bedächtig, er ist bereits für seinen Auftritt konzentriert...
Die Ausstellung im Gemeindehaus von San Nazarro ist sehenswert. Wo sonst die cittadini ihre Gemeindeversammlung abhalten, sind in der Sommerpause Werke von Ratti ausge-stellt. Ein Querschnitt seines Schaffens von 1950 bis 2005. Der Akzent dieser Bilder ist das Zeichnen. Ratti betont, Zeichnen sei einer der ersten elementaren Ausdrucksformen des Menschen, sei die Grundlage der darstellenden Kunstgattungen überhaupt. Ich begegne zufällig Diego Invernizzi, dem Journalisten aus Quartino, der die Ratti-Ausstellungen aller Jahre gesehen hat. Er schreibt im Katalog, er habe eine Welt kennengelernt, „in der Träume noch Wurzeln schlagen können...“.
Dieses Tessiner Event sollte eigentlich Ermunterung sein, die letztjährigen Anstrengungen, Glarus mit einer Freiluftausstellung zu verändern, zu verstärken.
Die Parole dazu : „Deng dü“! oder „Heb durä!“. Ich traf ihn wieder.
Bis bald! Ihr Pankraz F.
Bilder von Edgardo Ratti bei der Arbeit (obere Reihe), permanente Ausstellung in Fosano untere Reihe. (Bilder: Voce del Gambarogno)
Die Träume eines Achtzigjährigen
oder
Espresso liscio mit Edgardo Ratti am Lago Maggiore
Er ist ein ausgekochtes, aber liebenswürdiges Schlitzohr. Der kaum ein Meter siebzig gros-se braungebrannte, wandelnde Maestro, selber lebendig gewordene Skulptur unter den vielen „Kindern“, so nennt er seine Kunstwerke, die man zu seinen Ehren derzeit in den Strassen und Gassen aufgestellt und in den drei benachbarten Dörfern Magadino, Vira und San Nazarro ausgestellt hat - eine Hommage auf seinen demnächst bevorstehenden acht-zigsten Geburtstag.
Regelmässig wie eine Uhr kommt er täglich gemessenen Schrittes die kleine Steigung der Strasse in Vira gegen die Dorfmitte hinauf, um das Postfach zu leeren. Seine Füsse treten regelmässig und bestimmt auf, als ob er mit seinem Auftritt die Erdkugel unter sich drehen und in Schwung haben wollte. Alles ist hell an ihm: die weite beige Hose, das hellere, kräf-tige, langärmig zugeknöpfte Hemd, seine Mütze mit nur angedeutetem Schieber, seine schlohweissen Haare, sein ebenso heller gepflegter, gestutzer Bart, bis auf seinen Teint, der sich kontrasthaft braungebrannt abhebt wie seine dunkle Brille. Er geht zum Postfach, das ist sein Tor zur Welt, das Kunde von aussen bringt.
Justament von der Postfachfront sieht man durch Glastüren ins Treppenhaus der Casa communale. Hohe buntfarbige Glasfenster leuchten entgegen. Sie sind von Edgardo Ratti geschaffen und der Gemeinde geschenkt worden. Auch hier veränderte Ratti die Welt.
Als wir die Post-Türe kreuzen erkennt er mich wieder. Heute habe er ein bisschen Zeit, einen Morgenkaffee lange, gleich um die Ecke, im ristorante „Tennis“, neben dem Tennis-platz, mit dem wunderbaren Blick auf den Lago Maggiore, jetzt, wo es noch morgenfrisch und kühl ist.
Für einen Moment zieht er, hier im Schatten, seine dunkle Brille aus. Seine Augen sind braun, freundlich, klug und in den Augenwinkeln voller Schalk. Jede seiner Bewegungen ist optimal, straff und gezielt, dennoch gelassen. Das braune Gesicht ist zerfrucht und gibt ihm einen Ausdruck von Weisheit. „Wissen Sie,“ so meint er auf meine Bewunderung für die sehr umfangreiche Ausstellung, „ die Werke sind alles meine „Kinder“. Er strahlt und spart sich weitere Nebensätze zu sparen. Stolz, Selbstbewusstsein und Freude schwingen mit.
Seine Frau Eva stammte aus dem renommierten, heute mit Sternen gekrönten Ristorante Rodolfo, das sein Sohn führt. Sie ist vor etwa zehn Jahre erkrankt und leider verstorben. Ein weiterer Sohn war Fotograf, und seine Tochter Leda, die ein Atelier für Textil-Kunst-handwerk betreibt, taucht für einen Moment auf, er stellt sie vor, dann knattert sie auf einer Vespa wieder davon, die Arbeit im Atelier rufe. Bald habe ich ein Bild von seiner Familie. Seine Schwiegertochter Beatrice, die die Texte ins einem Ausstellungskatalog übersetzt hat, deren Tochter Catarina, die die Ausstellung im Kindergarten „hütete“, und deren Schwester Eva, die noch tapfer die Sekundarschule besucht.
Schon als kleiner Junge habe er einen Hang zum Zeichnen gehab. Es habe ihm grosses Vergnügen bereitet zu kritzeln, sich zeichnerisch auszudrücken. Aber seine Motivation bleibt weitgehend im Dunkeln. Auch die verschiedenen blitzgescheiten Texte renommierter Zeitgenossen in seinem 112-seitigen Katalog würdigen ihn zwar in allen Facetten, aber seine Seele packen sie nicht wirklich; denn der artista an meinen Tisch, der genüsslich seinen espresso liscio schlürft, lässt sich nicht wirklich in die Karten schauen. Was ihn eigentlich antreibe, möchte ich wissen. Das Interesse, das Schauen, das, was wohlgefällt, aber auch das, was missfällt. Auch die Neugier, aber vor allem die Lust zum Zeichnen. Stimmt. Wenn ich seinen Bildern entlang schreite, begegne ich dem Glitzern des Wassers, dem Wind, dem Licht, ob Sonne, ob dumpf, grau oder Nacht. Es sind die Tessiner Sommer und Winter. Oder die kräftigen, sicheren Striche seiner Akte, er mag Frauen, meint er mit einem verschmitzten Augenzwinkern. Aber auch die leicht verschwommene Welt, wie man sie durch Blinzeln wahrnimmt, das durchsichtig Angedeutete, als ob er sich schütze, seine wirkliche Vision ganz aufzudecken.
Der Mann macht auf mich den Eindruck einer Barke, die unbeirrt möglicher Wellen, ihren Kurs energisch einhält und sich von nichts und niemandem davon abbringen lässt. Es ist eine besondere Form von workaholic, nicht als Krankheit, sondern als Leidenschaft. „Ich will arbeiten, immer arbeiten, immer arbeiten...! Das ist schön!“ Seine Schwiegertochter bestätigt, eine Zeitlang – wie im Videofilm sichtbar – ging er am Stock, hätte er pausenlos von früh bis spät gearbeitet, gearbeitet, gearbeitet... Irgendwann hätte er sich selber überfordert.
Der Mann vis-à-vis ist topfit. Er wartet mit einem Lächeln, aber mit fast lauerhafter Aufmerk-samkeit auf die nächste Frage.
Ja, schon als Zeichnungslehrer am Gymi in Bellenz, habe er seinen eigenen Kurs gehabt. Das „System“ habe ihm grosse Schwierigkeiten bereitet. Das Governomentale, das Admini-strative, das Bürokratische, das „Lehrerhafte“, die Vorschriften, die „Ordnungen“, all das war ihm ein Greuel. Als Künstler gewährte man ihm vom „System“ einen gewissen Frei-raum. Die Schüler schätzten den professore, der so ganz unprofessoral war. Überall war er die Barke, die Nase vorn, einer Vision entgegen, immer unbeirrbar auf dem Kurs seiner Fantasie.
Eine Utopia blieb in seinem Kopf, nein, sei wurde ein Styropormodell. „La casa dell’ utopia“ und ist Teil seiner Ausstellung. Er hätte dieses Modell in Realität umsetzen wollen, im wuchernden Garten zwischen Friedhof, Schulhaus, Parkplatz und Seeufer in Vira. 5 mal 5 mal 5 mal Meter. Ein Kubus mit Treppen, Säulen, Dachterrasse von 30 Kubikmeter. 30000 Franken hätte es „damals“ gekostet, er hatte kein Geld dafür. Es bleibe eine Realutopie. Statt dessen sind ungezählte Plastiken entstanden, zahlreiche gar internationale Skulptu- renausstellungen im Freien sind Wirklichkeit geworden. Die derzeitige „Dankesausstellung“ ist ein Wurf über drei Dörfer.
Sein Autogramm ist ein herumsurrender Blitz am Nachthimmel und ein Punkt als Donner. Er wird unruhig. „Ich muss wieder arbeiten!“ Betonung auf muss. Die Unrast treibt ihn. Dann stapft er wieder mit Schritten, die die Erdkugel drehen zurück ins breit angelegtes baumum-wachsenes Atelier. Es ist versteckt hinter dem Marmorviadukt der SBB. Das Rauschen des Baches La Vadina schirmt vom Lärm des Verkehrs ab. Mit Schutzbrille, Hütchen und baren Oberkörpers schleift er an einem Alabasterklotz, ein Kubus wird es werden. Das ätzende Zirren des Schleifgeräts durchbricht die Stille, Staubwölkchen steigen auf. Er ist hochkon-zentriert, Kanonenschüsse könnten ihn nicht stören.
Der Maestro, der ein Star geworden ist. Was immer er heute macht, ist Kunst. Es ist eine Kunst, die Welt zu verändern. Edgardo Ratti hat die Welt verändert, er wird es über seinen Tod hinaus, den wir ihm noch lange nicht wünschen, tun.
„materia – acqua – luce“ – in einer Ausstellung heisst es „terra – acqua – luce“.
Nützt alles nichts, wenn nicht cultura dazu kommt. Kunst ist Talent und Arbeit.
Bis bald. Ciao Maestro Edgardo. Ihr Pankraz F.
(1) Die beiden Texte sind als Kolumne erschienen in "Fridolin", Schwanden im Sommer 2005.
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Aus Anlass des 40-Jahr-Jubiläums der "Mostra di sculpture all'aperto Vira Gambarogno -
1968-2008" schrieb Edgardo Ratti, als seinerzeitiger Gründerpräsident, folgende Würdigung im Jubiläumskatalog:
"1968-2008 Vierzig Jahre danach
Es geht hier nicht in erster Linie um die vergangene Zeit – auch wenn es immerhin vierzig Jahre sind, und das ist nicht wenig – sondern um die Botschaft, die in jenem sturmbeweg-ten 1968 an die Nachwelt, das heisst an uns, erging.
Man erwartete, dass wir darauf reagierten, und zwar in grösstmöglichem Einklang mit dem damaligen Klima, das geprägt war von Protest, Aufruhr und Tumulten von Anarchisten, die sich an der richtigen Bedeutung dieser Bewegung inspirierten. Und ich kann mit kaum verhülltem Stolz sagen, dass diese Botschaft im Laufe der Jahre auch in den folgenden Skulptur-Ausstellungen bis heute in ihrer ganzen Bedeutung verstanden und aufgenommen worden ist.
Nicht nur von den Fachleuten, sondern auch von der Bevölkerung Viras, die seit jeher ge-spürt hat, dass diese Ausstellung “ihre” Veranstaltung ist; verstanden haben die Botschaft auch die zahlreichen Besucher, die dieses kulturelle Angebot immer wieder nutzen, das ihnen die Organisatoren der Ausstellung und die Künstler bieten, die sich Jahr um Jahr für Kunst und Kultur im Gambarogno einsetzen.
Es sei auch ganz klar gesagt, dass die Ausstellung von 1968 nicht einfach auf bequeme Weise den kulturellen Reaktionen von damals folgte, wie man fälschlicherweise annehmen könnte. Im Gegenteil, sie beteiligte sich aktiv an der kulturellen Revolution, die ganz Europa erfasste. Deshalb ging sie auf der ästhetischen Ebene über die damals vorherrschenden, landläufigen künstlerischen Schemen hinaus und hatte kulturell ohne jeden Zweifel das grosse Verdienst, ein bleibendes Zeichen zu setzen, mit einem starken Akzent auf der Er-neuerung, auch im Sinne einer Provokation. Und die Menschen verstanden und reagierten auf intelligente Weise, nicht negativ, wie man auch hätte erwarten können. Das war ein ge-waltiges Ergebnis und es entschädigte uns für den Willen zur Veränderung, ohne den und die starke Motivation von damals wir heute kaum vierzig Jahre Ausstellungen im Gamba-rogno feiern könnten.
Welch besseres Beispiel also für die kommenden Generationen, die bereit sind, diesen nicht leichten Weg fortzusetzen, auch in einem Umfeld, das immer schwieriger wird. Und zwar nicht, weil es an Themen und Ideen fehlt, sondern weil die kulturellen Institutionen des Bundes und des Kantons auf höchster Ebene zu wünschen übrig lassen: man setzt die Mittel dort lieber für Feuerwerke und andere Events ein, die wenig kulturelle und künstle-rische Dichte haben. Den ernsthaften Kulturschaffenden, die vor Ort arbeiten, fehlen folgl-ich immer mehr die finanziellen Mittel, die absolut notwendig sind, um auch in Zukunft unseren Menschen wertvolle und unverzichtbare kulturelle Botschaften zu vermitteln.
Gerade deshalb gebührt all jenen unser uneingeschränkter Dank, die viel wertvolle Zeit geopfert haben und noch immer opfern, um diesen kulturellen und künstlerischen Diskurs hartnäckig und beharrlich weiterzuführen. Sie tun es nicht nur für Vira, das den unvergleich-lichen Rahmen für diese Art von Veranstaltungen bildet, sondern tragen ihre Botschaft auch über die kantonalen und nationalen Grenzen hinaus, wozu sicher die Präsenz der bekann-testen zeitgenössischen Künstler aus der Schweiz und dem Ausland beiträgt.
Ich wünsche deshalb den hervorragenden Organisatoren der 40. Skulpturenausstellung im Gambarogno, in Zukunft leichteres Spiel zu haben und so das Fünfzigjahr-Jubiläum zu er-reichen, das ich hoffentlich noch erleben darf.
Der damalige Präsident E. R. (Edgardo Ratti)
Ein Handschlag hilft nicht gegen den Tod
oder
Der noch offene Besuch im „Grotto al Capon“ Brione sopra Minusio
Es sind allerdings schon ein paar Jährchen her, seit mir ein liebes Ehepaar aus meinem Heimatdorf bei einem zufälligen Treffen in Riazzino TI empfohlen hat, unbedingt im „Grotto al Capon“ in Brione sopra Minusio einzukehren. Für sie sei es ein „Muss“, und sie schwärm
ten in allen Tönen vom rustikalen, gemütlichen, typisch tessinerischem Grotto, mit dessen Wirteehepaar sie schon viele Jahre befreundet seien.
Wer sich davon ein Bild machen möchte, schaue sich die am 8. Januar 2016 ausgestrahlte Sendung „Mini Beiz – dini Beiz“ an. Zu finden unter:
www.srf.ch/sendungen/mini-beiz-dini-beiz/kanton-tessin-tag-5-grotto-al-capon-brione-s-minusio
Heute immer noch liest sich die Werbung so:
„Dieses gemütlich-rustikale Grotto ist nicht leicht zu finden in den engen Gassen von Brione s/ Minusio. Ein
Orientierungspunkt ist der Glockenturm der Kirche oder einfach im Autosilo von Brione parken, schräg gegenüber auf der anderen Strassenseite bei der „Osteria Jonny“ (mit den Katzen) in die Gasse
reingehen und schon nach ein paar Schritten steht man vor dem wunderschönen Grotto. Liebevolle Details, herzlicher Empfang, einfach ein Ort zum Wohlfühlen.
Donnerstag gibt es meistens „Mistkratzerle“, die kleinen Stubenküken, die der Wirt eigens von den Terreni della Maggia bekommt, knusprig gebraten, mit Rismarinkartoffeln und Salat, Gemüse.
Ein ausgezeichneter offener weisser Merlot und viele viele Angebote von roten Tessiner Weinen.“
http://tisalutoticino.blogspot.ch/2010/01/osteria-al-capon-brione-sopra-minusio.html
Der Besuch des Grotto al Capon war also auf der Optionenliste. Doch schon lange vorge- sehen war ein Besuch in der Altstadt in Bellinzona, insbesondere der Stiftskirche San Pietro e San Stefano an der Piazza Collegiata.
Von der gepflästerten, grosszügig sich weitenden Strasse ist dieses Bauwerk
aus dem 16. Jahrhundert nur über eine gross- und breitangelegte Treppe zu erreichen.
Die beeindruckende Renaissance-Fassade wurde mit Steinen aus dem nahen Steinbruch von Castione errichtet. Eine Rosette schmückt sie und die Kirchenheiligen Petrus und Ste- fanus flankieren sie. Das kunsthistorische Juwel strahlt durch seinen Innenraum Erhaben- heit aus. Fresken, Stuckaturen und Gemälde der lombardischen Schule schmücken das Kirchenschiff. Wer sich diesen Genuss leisten mag, sollte sich reichlich Zeit nehmen und die Vielfalt der Kirche mit vielen Seitenaltären in Musse geniessen. Das tat ich denn auch.
Doch auch die schönste Kirche und hehre Kunst unterdrücken nicht, vor allem
an sommer- heissen Tagen, aufkommenden Durst. Justament vor der Panetteria Peverelli spendeten
mächtige, tiefrote, pyramidenartige Sonnenschirme wohltuenden Schatten. Ein kühler Trunk war jetzt eine Wohltat. Und während ich noch die Fassade von San Pietro e Stefano vis-à- vis bestaunte, sprach mich ein Ehepaar an, ob ich noch zwei Personen am Tische dulden würde, die übrigen Tische waren allesamt besetzt.
(Bildquelle:
www.tripadvisor.it/Attraction_Review-g188093-d8331179-Reviews-Chiesa_Collegiata_dei_SS_Pietro_e_Stefano-Bellinzona_Canton_of_Ticino_Swiss_Alps.html )
Erstaunt fragte ich zurück, was sie denn um diese Zeit in Bellizona aufhalte. Die Stimmung wurde ernst. Der sonst wortkarg scheinende Mann begann zu erzählen. Er sei wegen eines Arztbesuches in Bellinzona, er sei krebskrank, bereits in einem besorgniserregenden Sta- dium. Heute erhalte er beim Arzt weiteren Bescheid. Er sagte dies zuversichtlich und ruhig, mir schien aber ein Hauch von Zweifeln schwinge mit.
„Wissen Sie was, ich werde morgen oder übermorgen wieder zurückreisen, aber am bes- ten vereinbaren wir für nächstes Jahr einen Treff in Ihrem Grotto!“ Ich steckte ihm die Hand entgegen, und er schlug frohgemuth ein! Sie werden ihre Krankheit überwinden und wir haben nun einen gemeinsamen Termin. Alle machten gute Miene. Zuversicht beherrschte die Stimmung. Bald verabschiedeten wir uns. „Also, nächsten Sommer in Brione!“
…
Kaum zwei Monate später erreichte mich die Botschaft der lieben Bekannten aus meinem Heimatdorf, die mir das Grotto empfohlen hatten, der liebe Rolf sei dem aggressiv voran- schreitenden Krebsleiden erlegen.
Eigentlich wollte ich diese Begegnung schon damals aufgreifen und
verarbeiten, verdräng-
te sie aber etwas ratlos...
Nun, nach all den Jahren, begegnete ich dem lieben Ehepaar meiner Heimatgemeinde erneut. Natürlich kamen wir auf den verstorbenen Rolf zu sprechen.
Danach startete ich ein Telefon ins "Grotto al Capon" und erreichte auf Anhieb „Pesche“, wie sie schon damals ihren Koch Peter genannt hatten.
Zuerst sei das Grotto von Moni, der Witwe von Rolf, weitergeführt worden. Dann habe er es käuflich erwerben können und betreibe es im Sinn und Geist seines ehemaligen Chefs Rolf und seiner ehemaligen Chefin Moni weiter. Moni habe ihr Leben inzwischen neu gere- gelt und sich aus dem Geschäft zurückgezogen.
Anstand und Rücksichtnahme hinderten mich daran, der Witwe nachzuspüren und sie weiter zu befragen.
Dennoch bleibt die Begegnung mit ihr und Ihrem kranken Mann Rolf vor der Fassade San Pietro e Stefano für immer in Erinnerung.
Der Händedruck hatte zwar die Zuversicht, aber nicht die Kraft, den abgemachten Treff im damals folgenden Sommer einzuhalten.
Dennoch ist er erst eingelöst, wenn ich das "Grotto al Capon" besucht haben werde. Auf je- den Fall habe ich „Pesche“ informiert, er ist dem Treffen nicht abgeneigt.
Bis dann! Ihr Pankraz F.
Bildergalerie des versteckten "Grotto al Capon" in Brione s/Minusio. Aus Werbeanzeigen und Internet. Zweite Reihe rechts: Der heutige Inhaber und Betreiber des "Grotto al Capon" "Pesche" (Peter Lipp).
Minusio – der vergessene Ort an bester Lage
oder
Wo Bakunin sich versteckte, Stefan George starb, Oberst A Pro Söldner anheuerte und Elisàr von Kupffer sein Elisarion baute... (1)
Ehe Sie Locarno erreichen, fahren Sie durch den langgezogenen Vorort Minusio. Vorbei am kleinen Brunnen, auf dem das Bronze-Eselchen einen Mehlsack trägt. Auf diesem steht die Jahrzahl 1936. Es ist ein Werk von Wilhelm Schwerzmann (1877-1966). Das Original in Stein steht im Entrée des Gemeindehauses. Minusio geht nahtlos über in Muralto und Locarno.
Das 6800-Seelendorf am Lago Maggiore auf 246 m.ü.M., zwischen Tenero und Locarno, das auch zwischen Brione und Orselina bis zu den die beliebten Aussichtgipfeln Cimetta (1671 m) und die Cardada (1496 M) hinauf reicht, hatte vor 1900 kaum 1000 Einwohner. Kurz zuvor waren viele ausgewandert, die meisten nach Amerika, Kanada, Australien, aber auch Österreich, Italien, Korsika... Kaminfeger, Maurer, Händler und Kaufleute...
Trotz dichter Überbauung durch moderne Wohnhäuser und Blocks sind historische Spuren nicht übersehbar. Was uns Glarner an die Zeit der fremden Dienste erinnert, ist hier das „Cà di ferro“ (Casa di ferro), eine schlossartige Kaserne mit imposantem Turm. Hier führte im 16. Jahrhundert Oberst Pietro A Pro aus Altdorf ein Anwerbe- und Exerzierzentrum für Söldner wie weiland im Glarnerland Oberst Caspar Gallati oder dessen Enkel Oberst Freu- ler. Als Militärunternehmer stellten sie für Könige in ganz Europa Truppen zusammen, nachdem sie von den Ständen die Bewilligung zum Anheuern kriegsfähiger Burschen eingeholt hatten.
Älter ist die schon 1313 erwähnte Kirche San Quirico. Sie ist im 18. Jahrhundert im baro- cken Stil neu erbaut worden, hat aber im Innern an der Südwand romanische Fresken- fragmente aus dem 13. Jahrhundert bewahrt. In einer Apsis hinter Glas sieht man den heiligen Quirico mit Schwert, ihm gegenüber mit frommem Ausdruck die heilige Luzia. Der romanische, trutzige Glockenturm steht von der Kirche etwa fünf Meter entfernt, er diente früher als Wachtturm.
Da Minusio, zu San Vittore Locarno gehörig, erst seit dem 27. Juli 1798 eine eigene Pfarr- gemeinde ist, wurde im Dorfkern eine Kirche in neoklassischem Stil erbaut und 1801 San Rocco geweiht. Schon vorher, seit 1620, bestand bergwärts gegen Brione gelegen die Kir- che „Madonna delle Grazie“. Noch älter ist das „Oratorio del Santo Crocifisso“ auch im Dorfkern. Dieses Bethaus ist als Kapelle schon 1529 entstanden und wurde 1866 neu er- richtet.
Eine einzige Marmoranlage ist der geräumige Friedhof, als Ganzes ein Monument geomet- rischer Strenge und Nüchternheit, mit Treppen und verschiedenen Ebenen. Neben den Fa- miliengräbern finden sich Einzel-Erdbestattungen und Urnen. Nach Auskunft des Friedhof- gärtners beträgt der Anteil an Urnengräbern heute rund 70 Prozent. Dieser Ruheort für die Toten wurde 1969 errichtet, nachdem der alte Friedhof zu klein geworden war. Einer der be- kanntesten Toten, die hier ruhen, ist der Deutsche Dichter und Lyriker Stefan George (1868 - 1933). Er wurde vom alten auf den neuen Friedhof umgebettet. Heute erinnern eine quad- ratische Anordnung von Marmorplatten und die schlichten Worte „Stefan George“ an den in Minusio verstorbenen Deutschen. Sieben mannshohe in Töpfen hingestellte Bäumchen – drei links, drei rechts und eins an der „Kopfeten“ – sind der einzige Pflanzenschmuck. George hatte sich 1931 in Minusio niedergelassen, wohnte einen Winter in einer alten Müh- le, kehrte aber 1933 – enttäuscht vom Nationalsozialismus - hieher zurück. Der Reichspro- pagandaminister Goebbels hatte ihm das Präsidium einer neuen Akademie der Künste für den Bereich der Dichtung angeboten, was er ausschlug. Ebenso war er der von den Nazis pompös inszenierten Feier zu seinem 65. Geburtstag ferngeblieben. Seine letzten Tage verbrachte George in der „Clinica Sant’ Agnese“ ob Locarno. Sterbewache hielten die Brü- der Stauffenberg, deren einer, Claus Schenk Graf von Stauffenberg, 1944 mit dem miss- glückten Attentat auf Hitler in die Geschichte einging.
Für kurze Zeit hatte schon 1919 Hermann Hesse in einem kleinen Bauernhaus am Dorf- eingang gewohnt, ehe er nach Sorengo weiter zog und schliesslich in Montagnola seine zweite Heimat fand.
Erwähnenswert ist die versteckte „Villa Baronata“ am Ende des Sees zwischen Minusio und Tenero. „Baronata“ erinnert an die einstige Besitzerin Baronin Antoinetta Saint-Léger. Sie hatte Ende des 19. Jahrhunderts eine Weile hier gelebt. Es war mit Abstand die grösste Villa in der Umgebung. Bemerkenswert ist, dass sich hier Michel Bakunin (1814-1876), der politische Schriftsteller, Berufsrevolutionär und später Ikone der Anarchisten aufgehalten hat. Hier war der konspirative Treffpunkt politischer Emigranten aus Russland und Italien. Von hier aus war Italien auf einem Kahn leicht und fast unbemerkt erreichbar. Hier war eine fliegende Druckerei für aufständische Schriften, da liess sich ein Waffenlager einrichten, bereit für den Aufruhr in Italien. Zeitweilig wohnte Bakunin in Locarno und arbeitete an der russischen Übersetzung des „Kapitals“ von Karl Marx. Sein Projekt scheiterte. Nach erfolg- losem Auftritt in Bologna, seiner Odyssee im Tessin und im Wallis starb Bakunin 1874 in Bern. Noch heute ist dieser Punkt – so ein Einheimscher – der heisseste in der Schweiz.
Der Seltsamkeiten nicht genug. Seit 1981 Kulturzentrum der Gemeinde Minusio ist das „Elisario“, umgeben von wohl dreissig Palmen an der Via Simen 3 schon fast in Muralto. Dieses ist neben Rudolf Steiners „Goetheanum“ in Dornach der einzige Tempelbau in der Schweiz. Urheber dieses eigentümlichen, 1927 eingeweihten Bauwerks, das 1939 durch einen zwölfeckigen Kunsttempelanbau zum „Santcuarium Artis Elisarion“ erweitert worden war, war der estländische Elisàr von Kupffer (1872-1942). Er gründete eine religiöse Be- wegung (Klarismus, „der dritte Weg zwischen Kommunismus und Kapitalismus“), war Künstler, Anthologe, Dichter, Übersetzer, Bühnenschriftsteller und benutzt das Pseudonym „Elisarion“. Er lebte mit dem Philosophen Eduard von Mayer zusammen und hinterliess das monumentale Hauptgemälde „Klarwelt der Seligen“. Bundesrat Ruedi Minger schrieb nach einem Besuch in dieser kuriosen „Welt“: „Elisarion, Sie liessen mich einen Blick tun in eine andere, schöne Welt! Das tat wohl und schafft neue Hoffnungen in schweren Zeiten, Ihnen und Ihrem treuen Freund Dr. v. Mayer gedenke ich in Ehrfurcht und Dankbarkeit“. Für Bun- desrat Nello Celio war es, ein „Ort des Lichts und des Friedens“.
Minusio hat im Wappen auf weissem Grund mit blauem Balken (wie Zug) einen Löwen mit schwingendem Schwert. Geschaffen hat es 1917 Wilhelm Schwerzmann, der später das kleine Eselchen (1936) schuf. Spottname der Minusiesen ist „Esel“, der benachbarten Bri- oner „Muli“ und der Leute von Mergoscia „Ziegenböcke“, so erklärte mir der Gemeinde- schreiber von Minusio. Und im Ristorante Centrale kostet ein espresso liscio noch zwei Franken... A rivederci! Ihr Pancrazio F.
(1) Leicht abgeänderte Fassung meiner Kolumne im “Fridolin”,. Schwanden, Nr. 28, 10. Juli 2008 Frontpage.
Bilder:
Oben links: Wappen von Minusio. Oben rechts: Eselein am Eingang von Minusio. Beides wurd von Wilhelm Scherzmann geschaffen. Das Wappen 1917, das Eselein 1936.
Mitter: Karte von Minusio.
Untern links: Elisario. Unten rechts: Ca' die ferro
Fotos:
http://www.proveloticino.ch/tag/minusio
http://www.kulturflaneur.ch/hgelwanderung-in-etappen/
http://www.minusio.ch/index.php?node=296&lng=1&rif=53a77ed493
http://www.firmendb.de/schweiz/Tessin_Minusio.php
http://www.panoramio.com/photo/295115
Luino-Marktpilger
oder
Bei den piccoli banditi (1)
Mittwoch ist Luino-Tag! Autocars von weit her bringen die Luino-Pilger her. Zu Tausenden frequentieren sie den Markt, der am Langensee zur Institution geworden ist.
Da wir gerade im Tessin Ferien machen, kommt ein Luino-Besuch aufs Programm.Noch gilt die italienische Währung der Lira. (Erst ab 2002 wird der EUR die nationalen Währungen in den EU-Staaten ablösen.) Schon früh morgens rollen wir mit der Blechlawine auf der Gam- barogno-Seite des Lago Maggiore südwärts. Vorwiegend Tessiner-Feriengäste wie wir sind erwartungsvoll unterwegs.
Die Schweizer Zöllner an der Grenze machen einen gelangweilten Eindruck mit leidende Mienen. Einer winkt uns mit letzter Kraft, aber ohne uns eines Blickes zu würdigen, weiter. Die italienischen Doganieri sind so intensiv fuchtelnd ins Gespräch vertieft, dass wir unge- hindert passieren.
Schon eingangs Luino sind Autos zu Hauff auf beiden Strassenseiten abgestellt. Im Zen- trum ist der Teufel los. Ein Polizist regelt den Verkehr, das heisst, er unterbricht die Blech- lawine, um die Touristenströme die Strasse überqueren zu lassen, damit sie vom einen Teil des Marktes zum anderen gelangen können. Wir finden am See auf einem mächtigen, staubigen Naturplatz triumphierend den letzten Parkplatz und stürzen uns dann ins Ge- tümmel.
Durch Hunderte von Marktständen schieben sich mühsam die Menschenmassen. Alle Altersstufen sind vertreten. Feuchte, verschwitzte Gesichter. Automatisch passt man sich dem Tempo der träge vor sich hinkriechenden Menschenschlange an, was sehr ermüdend ist. Denn wer den ganzen Markt abklappert, tut dies wohl mehr als eine Stunde und sehr bald im "Plemmplemm"-Schritt.
Es gibt zwei Gruppen von Markfahrern: die engagierten, echt südländischen Händler und das Personal, das mit teilnahmslosen Mienen die Zeit bis zur Siesta absteht. Es ist mörde- risch heiss. Man nutzt den Schatten der überdachten Stände aus und tscharggt durch diese Anballung Textilien, Schuhe, Lederwaren, Taschen, Antiquitäten, Lebensmittel, Haushal- tungsgeräte, Spielzeuge, Platten und CDs.
Als ich einen zu langen Blick auf eine kleine Damentasche werfe, die unter Hunderten vom Dache hängt und die ich mir sehr gut am Arm meiner Frau vorstellen kann, ist flugs eine Dame mittleren Alters da und radebrecht in zahlreichen Sprachen, was das für eine "schö- ne Tasch" sei. "Solamente 60'000 Lire per lei!" In solchen Fällen muss man die Gnade ha- ben, den Kaufgegenstand unentwegt und begehrlich anzustarren, aber unbedingt zu war- ten, bis der Verkäufer "heiss" wird. Er will ja schliesslich verkaufen. Siehe, schon geht die Dame auf 55'000 Lire für die "schöne Tasch" herunter. Ich anerkenne, dass die "schöne Tasch" "molto preziosa" und "molto bella" sei. Inzwischen hat sie die "schöne Tasch" meiner Frau bereits in die Hand gedrückt, eine völlig richtige Verkaufsmassnahme, damit der Kun- de vom Kaufgegenstand bereits Besitz ergreift und sich nur mühsam wieder davon trennen kann. Gleichzeitig zücke ich auffällig mein Portemonnee, rühme die Verkäuferin und ihr Pro- dukt unentwegt, zögere aber weiterhin. Jetzt mache ich Anstalten, die Börse wieder zu ver- sorgen, da kommt das nächste Angebot, jedoch nur geraunt: "Allora, 50'000 Lire!". Nun will ich noch mit Schweizergeld bezahlen und komme schliesslich mit einem Häppchenpreis davon. Die Tasche ist weit unter ihrem Wert verkauft. Alle sind zufrieden. Doch noch nicht genug. Die verschmitzte Verkäuferin bringt mit dem Herausgeld einen Kassabon auf 25'000 Lire. Auf meinen fragenden Gesichtsausdruck hin meint sie: "Für Kontrolle Dogana". Seit- her bin ich restlos überzeugt, dass viele Händler "piccoli banditi" sind.
An der Schweizergrenze haben wir den besonderen Kassabon bereit, werden aber von strengen Gesichtern weitergewunken. Allerdings sehen wir am Rande ein Zürcher Auto, sämtliche Türen offen, den Kofferraum ausgeräumt und die Insassen im Halbkreis mit finsteren Mienen... Ob sie wohl Damentaschen schmuggeln wollen ?
Bis bald! Ihr Pankraz F.
Nachtrag: Mit der Zeit bauen wir den Markt von Luino wenn immer möglich in die Tessiner Urlaube ein. Ebenso zur Tradition wird das Schlangestehen bei der Pizzeria, um die Ecke, wo in einem Familienbetrieb Pizzen durch ein verglastes Schaufenster herausgegeben wer- den. Weitere Fenster ermöglichen Einblicke in die Pizza-Bäckerei, wo emsige Familienmit- gliedern in weissen Blusen und Mützen in grossen Back-Automaten Pizzen wie Teppiche bis zum geht nicht mehr und am Laufmeter herstellen und mit scharfen Messern in vier- eckige Teile zerschneiden. Dazu gibt‘s Mineralwasser. Auf einem Vorplatz lagern Marktbe- sucher aus aller Welt und verschlingen die Pizzen, entsprechend grauenhaft ist der Platz mit Kartons und Einmachpapier, Kartonbecher und Plastik-Mineralwasserflaschen übersät.
Wir ziehen uns, eine Ecke weiter zurück in einen etwas vernachlässigten Park und ver- schmausen unsere Pizzen so in Musse im Schatten der Bäume. Leicht erhöht haben wir einen Blick auf einen Kinderspielplatz und die rührenden Szenen, in den Italiener mit ihren Bambini spielen. Man hat den Eindruck italienische Familien strahlen ständig Festtags- stimmung aus und scheinen den Tag und das Spiel mit den Kindern zu geniessen. Vor allem Väter kümmern sich die Kinder, während die Mütter aus der Ferne und mit gele gent- lichen Winken die Zeit geniessen. Wer sich darauf einstellen kann, zelebriert dieses ver- gnügliche, einfache Pizza-Essen im Freien und atmet etwas von der eigentümlichen Italia- nità ein, was sich niemals mit einer Gipfelrast auf dem Rautispitz mit Landjägern, einem Mocken Käse, ein paar Scheiben Brot und einem Trunk aus der Feldflasche vergleichen lässt. Das Hochgefühl ist dort ein anderes und der Blick in die Weite auch.
Doch eine luineser Begegebenheit muss hier nachgereicht werden: Bei einem weiteren Kauf einer weiteren Damentasche zu einem „gut Preis“ mit einer Wahnsinns-Lira-Note gibt es reichlich Herausgeld mit einem Büschel kleinerer Lira-Noten. (10000-er!). Beim Geld- wechseln im Tessin vor der Heimreise meint der Banker am Schalter in einer Mischung von Mitleid und hämischem Grinsen: „Bedaure, diese Noten sind nicht mehr gültig, können Sie einstampfen!“ Man hat mir alte Noten untergejubelt. Von wegen „piccoli banditi“!!! Sie die- nen seither als Buchzeichen in irgendwelchen Büchern auf meinem überfüllten Regal.
Ein Jahr später besuchen wir den Markt statt in Luino in Ponte Trese (I).
(1) Abgeänderte und ergänze Fassung aus dem Jahr 2000, allerdings erst veröffentlicht im „Fridolin“, Schwanden, am 7. Juli 2005.
Fotos:
http://www.dein-mietbus.ch/de/bus-zum-markt-luino-italien
http://moser-reisen.ch/event/?tx_hbtravelmanager_travel1%5Btravel%5D=161&tx_hbtravelmanager_travel1%5Bcontroller%5D=Booking&cHash=261236e2b3878aa95ebf131b7902750c
Bild: https://www.discogs.com/artist/2159324-Max-R%C3%BCeger
Die unerwartete Tessiner Begegnung mit einem Zürcher
oder
Morgendlicher Small Talk mit einem Mitglieder der Unterhaltungsmaffia(1)
Auch graue Tessinermontagmorgen können ihren Reiz haben und sogar mit Überra schun- gen aufwarten.
Der Blick von den Hängen des Gambarogno auf die andere Seite des Lago Maggiore, hin- über ins Verzascatal, ist verdeckt. Herbstlich anmutende Schleier um Cardada und Cimetta ob Locarno wirken wie Schärpen und die Monti di Motti und die Cima di Sassello verbergen sich hinter Schlirpen wie zwei Mafiosi hinter tiefgezogenen Hutkrempen.
Milchigweisser Dunst schwebt über der Magadinoebene. Der mehr vermutete als sichtbare Sonneneinfall von Osten
her lässt die plastiküberdeckten Tomatenfelder wie hellgraue Hart- plätze erscheinen. Sogar der Lago Maggiore scheint mit leisem Kräuseln zu frösteln. Die im nahen Kastanienwald sonst so
fröhlich lärmenden Vögel haben ihr Gezwitscher eingestellt, die Geräusche der Menschen nehmen überhand.
Die Nachbarin Lisetta staubsaugert, was das Zeug hält; ein schwerer Laster führt mit Knar- ren und Krächzen
Baugrubenmaterial zu Tal, in der Ferne puht ein Schiffshorn.
Ich fahre ins Dorf, Zeitungen, Post und frische Brötchen zu holen.
Das Postlokal ist eng und düster, hinter dicken Schalterscheiben brennt das Neonlicht, als ob es Abend wäre. Ich betrete die noch finstere Telefonkabine, um ins Glarnerland zu tele- fonieren.
Da ! Plötzlich erblicke ich durch die Kabinen-Glastüre einen Herrn. Völlig in sich versunken, im Tiefschlaf oder in einer Vollnarkose. Ist das nicht...? Während man mir am Ende des Drahtes das Wetter im Glarnerland schildert und aufzählt, wer frischverstorben sei, beob- achte ich mit steigenden Interesse die Gestalt, die sich mit geschlossenen Augen auf den Schalter zu bewegt.
Grauer Gufenschnauz! Angedeuteter Scheitel im dichten, leicht meliertem Haar, den Kopf geneigt, die Augen so schwer, halb geschlossen wie Jalousien, eigentlich gehörte dazu noch ein Seufzer der Schlaftrunkenheit. Zum Teufel, er ist es...! Mein Telefonpartner fragt schon zum zweiten Mal, ob ich noch da sei...Der Herr da draussen bewegt sich in slow motion zum Schalter.
Vom Hafer gestochen breche ich das Telefon ab und beeile mich, die Kabine zu verlassen. Der schlaftrunkene Herr mit Gufenschnauz brummelt gerade noch ein lippenloses „Gräzie tänto, ärriwedertschi!“ und schleicht zum Ausgang. Während ich die Sprechtaxe bezahle, frage ich das aufgeweckte, freundliche Fräulein, ob es den Herrn von eben kenne. „Natural-mente, c’ è Sinjor Rüeger!“ - „Also doch!“ Naturalmente wusste das Fräulein, dass der "Sinjor Rüeger" zuerst Brötchen hole und dann bei der Nunziata im ristorante Sargenti just vis-à-vis seinen Caffè liscio brauche.
Ich eile ins Freie. Nichts. Der "Sinjor" ist wie vom Erdboden verschluckt. Blick zur Panette- ria. Nichts. Blick zum Zeitungskiosk. Nichts. Blick zum ristorante - nichts. Das darf nicht wahr sein! Ich habe ihn so oft am Fernsehen gesehen, im Radio gehört oder von ihm Wit- ziges gelesen...jetzt möchte ich ihm einmal leibhaftig gegenüberstehen.
Gedanken können wie Magnete wirken. Kaum habe ich meinen Espresso bei der Nunziata hinter mir, pralle ich am Eingang beinahe mit dem Gesuchten zusammen. Sein Gesicht scheint immer noch in Trauer, er hat diverse Zeitungen unter den Arm geklemmt und trägt einen Papiersack, wahrscheinlich Gipfeli. „Grüäzi, Sie sind es doch...!“
Nach zwei-drei kritischen Blicken erhellt sich mit einem Schlag das Gesicht, es füllt sich mit Leben. Wie mit einem Schalter angeknipst mustert mich pfiffig ein schalkhaftes, jungen- haftes, verschmitztes Antlitz. Das ist er wirklich: Max Rüeger. Star vom Bildschirm, Stimme aus dem Radio, prominentes Mitglied der Zürcher Unterhaltungsszene. Kolumnist bei der "Schweizer Illustrierten". Eine Institution ist plötzlich Mensch geworden, der den grauen Tessinermontagmorgen widerspiegelt und nun verändert.
Ein nettes Gespräch entsteht: über gemeinsame Bekannte, seine früheren Unterhaltungs-produktionen, über seinen
altersbedingten Rückzug vom Bildschirm und aus dem Äther... und anderes mehr. Geblieben ist er zeichnendes Redaktionsmitglied der Schweizer Illu- strierten. Wie viele Sketches, Liedertexte,
Verse, Glossen hat er verfasst! Für mich waren vor allem seine Mundartverse eine Mischung von Gemütlichkeit, genauer Beobachtung des Alltags und wohlwollender Ironie, wohlverstanden in
„Züritüütsch“, aber eine wohltuende Abweichung von den sonstigen selbstgefälligen Zürischnorrereien.
Etwas später fahre ich an ihm vorüber, er geht auf dem Trottoir in der gleichen Richtung. Seinen unverwechselbaren Gang zu beschreiben wäre eine eigene Erörterung an einem weiteren grauen Tessinermorgen wert. Ich hupe spitz und kurz; er winkt mit ausgestrecktem Arm, beiläufig wie es scheint, zurück, den Blick auf seinen Weg gerichtet. Doch am anderen Tag nennt er mich am Zeitungsstand beim Namen und weiss sogar meine Autonummer. Das ist der Profi - schleicht scheinbar teilnahmslos durch die Welt und sieht doch alles.
Der Star ohne Starallüren! Oder ist es gerade die coole, biedere Art, die die fehlenden Allüren zur Allüre macht ? Eins ist aber klar, der Morgen ist nicht mehr grau.
Ich freue mich jetzt schon auf den nächsten grauen Tessinermontagmorgen und bin gespannt, wer dann daher kommen wird.
Bis bald. Ihr Pankraz F.
(1) Leicht überarbeitete und ergänzte Kolumen im "Fridolin", Schwanden, vom 15. August 1996.
(2) Aus seiner Kurzbiografie zitiert:
https://de.wikipedia.org/wiki/Max_R%C3%BCeger
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"... Max Rüeger: Geboren 29. April 1934 in Wädenswil; gestorben 16. Mai 2009 in Zürich. Schweizer Radiomoderator und Autor. - Nach der Matura und einer Schauspielerausbildung wurde er in den 1960er Jahren als Radiomoderator bekannt. Für das Schweizer Radio DRS moderierte er Sendungen wie "Autoradioi Schweiz", "Espresso" und "Guete Morge". Er war Autor von Hörspielen, Unterhaltungssen- dungen (z.B. Teleboy), Kabarettstücken (etwa für das Cabaret Rotstift) und Liedtexten (besonders für das Trio Eugster), Neufassung des Librettos der "Kleinen Niederdorfoper" mit Werner Wollenberger). 1969 wurde er für das Musical "Holiday in Switzerland" mit der Goldenen Rose von Montreux ausge-zeichnet. 1984-99 gehörte er der Redaktion der "Schweizer Illustrierten" an. Für das 2004 entstandene Buch "Heb Sorg", erhielt er den literarischen Anerkennungspreis des Kantons Zürich..."
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Werke:
Auto-Radio Schweiz. Heiterer Fürher für Strassenbenützher, illustriert von Scapa, Benteli, Bern 1968,
Der Witz der Schweizer. Gesammelt und aufgezeichnet von Max Rüeger, Desch, München 1971 und Herbig, München 1986.
Irlands Pferde. Bildband (Text mit Hanspeter Meier), Hallwag, Bern 1975.
Winterland Schweiz. Eine Winter-Fantasie (mit Ernst Fretz(, AT, Aarau 1979.
Heb Sorg. Verse, Lieder, Chancons. Vorwort Peter Zeindler, Altberg, Richterswil 2004.
Das wär's. Die letzten Verse. Vorwort von Heinz Lüthi, Altberg, Richterswil 2009.
16x Max Rüeger. Samstags-Verse aus der Radio-Reihe "Spott + Musik". Musikalische Zwischenspiele von Emil Moser, Langspielplatte, Pick 1973,
Ein Nekrolog auf Max Rüeger (3)
Max Rüeger ist im Alter von 75 Jahren gestorben
Eine Radiolegende ist verstummt
(sda) Die Radiolegende Max Rüeger ist tot. Er ist am Samstagabend im Alter von 75 Jah- ren im Kreise seiner Familie gestorben, wie diese am Sonntag mitteilte. Rüeger gehörte zu den populärsten Radiomoderatoren der sechziger und siebziger Jahre. Rüeger verstarb nach längerer Krankheit in einem Zürcher Spital, wie seine Frau Marlis Rüeger auf Anfrage sagte. Bis im letzten Sommer war er noch als Autor tätig und las immer wieder – etwa in Altersheimen – aus seinen Texten vor – «bei jenen Menschen, die ihn noch vom Radio her kannten», wie seine Frau ergänzte.
Rüeger wurde 1934 in Wädenswil geboren. Nach der Matura und einer Schauspiel- und Radioausbildung war er als Reporter, freier Autor, Kolumnist sowie als Redaktor bei der «Schweizer Illustrierten» tätig.
Bekannt wurde Max Rüeger in den sechziger Jahren, als er zu einem der populärsten Radio- und Fernsehmitarbeitenden avancierte. Unter anderem moderierte er die Früh- sendungen «Autoradio Schweiz», «Espresso» und «Guete Morge».
Besonderer Beliebtheit erfreuten sich seine «Samstagsgedichte und -lieder» im Schweizer Radio DRS 1, wie seine Frau weiter erzählte. Im Jahr 2004 entstand daraus das Buch «Heb Sorg», für das Rüeger den literarischen Anerkennungspreis des Kantons Zürich erhielt.
Rüeger war auch einer der bekanntesten Autoren von Kabaretts und Unterhaltungssen-dungen in der Schweiz. Als Fernsehautor wirkte er unter anderem für den «Teleboy». Daneben schrieb er Bühnentexte, etwa für das «Cabaret Rotstift» und das «Trio Eugster». Für sein Schaffen wurde Rüeger mit zahlreichen Preisen geehrt. So erhielt er zwei Goldene Schallplatten und gewann 1969 die «Goldene Rose von Montreux» für das Musical «Holiday in Switzerland».
Starfoto von Max Rüeger.
Bild: ww.srf.ch/play/radio/musikwelle-magazin/audio/ahoi-sowie-andere-lieder-nd-gedichte-von-max-rueeger?id=4d98c7ce-1fb5-46b0-96a4-98c7352b1a2d, abgerufen 10. Dezember 2016.
Radio-Gedenksendung:Musikwelle Magazin, 28.05.2014, 10:40 Uhr«Ahoi» sowie andere Lieder und Gedichte von Max Rüege.
Seine letzten Verse hat Max Rüeger unter dem Titel "Das wär's" zusammengefasst, Sie sind die Rückschau eines Zeitgenossen, der genau wusste, wie es um ihn stand, und dem es am Schluss seines Lebens noch einemal gelingt, Nebensächlichkeiten des Alltags in allgemeingütligte Aussagen zu verdichten. So ist ein ganz besonderes kleines "Züribuch" entstanden, das neben vielen Glanzlichtern auch unnachahmliche zweiteilige Lämpi-Elegie über die Weihnachtsbeleuchtung der Zürcher Bahnhofstrasse entält.
Max Rüeger: Das wär's. die letzten Verse, 80 Seiten, 27 Schwarzweiss-Fotos, Broschur, Umschlag mit Klappe, Altberg, Richterswil 2009, Fr. 26.50
"Heb Sorg zu jedem Tag im Jahr.
Tänk nüd an Herbscht im Februar.
Freu di, wänn Freud chasch wiitergäh.
Lass dir au eigni Träum nüd näh.
Heb Sorg!"
Max Rüeger
Bild: http://www.gartenbista.de/pflanzen/sonnenblumen-pflege-592, aberufen 10. Dezember 2016.
Tessiner Wein
oder
Merlot aus der Sonnenstube (1)
Tessiner Weine sind gewiss nicht die Stars im weltweiten Vergleich. Sie haben - was man auf den ersten Blick kaum glauben kann - keine glorreiche Vergangenheit und keine glanz- volle Tradtition.
Die Tessiner Bevölkerung war (wie auch die unsere) arm und lebte von der Selbstversorg- ung. Man hatte ein paar Ziegen und einige Rebstöcke. Der daraus gekelterte Wein kann nicht mit heutigen Massstäben gemessen werden. Zudem verkamen die Tessiner Reben in der zweiten Hälte des letzten Jahrhunderts als amerikanische Rebkrankheiten einfielen. Fachleute nennen diese Oidium (Echter Mehltau), Pernospera (falscher Mehltau) und vor allem Phylloxera (Reblaus). Diese zerstörten die Tessiner Weinkulturen zur Bedeutungs- losigkeit.
Erst nach ernsthaften Experimenten und nach der Einfuhr der Merlot-Traube aus Frank- reich begann eine neue Entwicklung, die in den letzten 40-50 Jahren dem Merlot zum heu- tigen Siegeszug verholfen hat. In einer langsamen, aber stetigen Umorientierung des Mer- lot gelang es von einem „kräftigen, robusten, widerstandsfähigen“ zu einem „weichen, runden, rasch trinkreifen und süffigen Wein“ zu kommen, wie Martin Kilchmann in seinem hervorragenden Büchlein „Merlot del Ticino“ (Albert Müller-Verlag 1989) feststellt.
Wie einschneidend die Entwicklung im Tessin voranschritt, zeigen ein paar Daten. Die Weinanbaufläche ist von 1870 bis 1994 von 8000 Hektaren auf rund 1100 Hektaren redu- ziert worden! Mit einer Bepflanzungsdichte von etwa 4000 Rebstöcken je Hektar ist eine optimale Mechanisierung und eine erhebliche Sekung der Arbeitsstunden erreicht worden. Gleichzeitig sind die herkömmlichen Traubensorten wie Nostrane, Americane und Bianche im Rückzug, der Merlot hingegen beherrscht 1994 etwa 86 % der Anbaufläche oder sogar 88 % der Rebstöcke. Ausser dem Merlot wird im Tessin auch der Pinot noir angebaut. Die- ser reift früher als der Merlot und ist deshalb in Regionen oberhalb von 450-500 m.ü.M. ge- eigneter.
Weitere Rebsorten von geringerer Bedeutung sind Bondola, Cabernet Sauvignon, Cabernet Franc, Diolinoir und Gamaret. Unter den Weissen werden produziert Chardonnay, Chasse- las, Sémillon, Sauvignon, Riesling-Sylvaner, Kerner und Pinot bianco und grigio. Unter Ein- heimischen eine gewisse Beliebtheit hat noch der Nostrano rosso. Die Americane werden vornehmlich für die Herstellung von Grappa verwendet. Wer sich mehr vertiefen möchte, lese etwa die viersprachig abgefasste Schrift „Guida alle Cantine e ai Vini del Ticino“ oder das sehr schön gestaltete und farbig grosszügig illustrierte Buch „Ticino il tuo vino“ (Nova Edizione Trelingue, Viganello-Lugano).
Im Tessin gibt es rund 4000 Freizeit-Winzer mit kleinen Parzellen, 30 professionelle Wein- bauern und 10 Weinbaubetriebe mit grossen Rebflächen. 80 Weinbauern verkaufen ihre Trauben den Genossenschaftskellereien.(2)
Eine ständige Qualitätsverbesserung wurde erreicht durch staatliche Massnahmen, spezi- ellen Rebbauverordnungen, Professionalisierung, wissenschaftliche Begleitung und durch intensive Kontrollen, mit denen Gütezeichen erworben werden können. Seit 1948 ist die Qualitätsmarke VITI geschaffen worden. Eine staatlich eingesetzte Expertenjury verleiht diese jährlich, jedoch nur wenn Vinifikation und Degustation präzisen Erwartungen ent- sprechen. So ausgezeichnete Weine dürfen auf der Etikette oder auf dem Flaschenkragen, das bekannte VITI-Qualitätszeichen tragen.
Charakteristisch für die Merlot-Weinberge ist das System der Rebenpflanzung und -pflege. Dabei wird die Fruchtrute etwa 80-90 cm über dem Boden an Drähte festge-bunden, da- durch wird die Fäulnis vermieden und die Sonnenbestrahlung optimiert.
In der Leventina und den höher gelegenen Tälern ranken die Trauben nach wie vor im Per- gola-System. Erhebliche Anstrengungen wurden unternommen, die Rebhänge so zu terras- sieren, dass sie mechanisch und maschinell bearbeitet werden können. In den hagelrei- chen Gebieten Medrisiotto und Malcantone sind Hagelnetze entwickelt worden, die die gefürchteten Schäden weitgehend vermeiden lassen.
In 176 Tessiner Gemeinden werden Reben gepflanzt. Im Durchschnitt werden jährlich 56000 Zentner oder 4, 1 Millionen Liter Wein produziert, und zwar Hauptsache Merlot (rosso). Den Merlot gibt’s auch als rosato (rosé) und bianco. Nebst der Rebenpflege und -erziehung kommt der Vinifikation ein wichtige Bedeutung zu. Die Kelterung, eine Profes- sion und eine Kunst, kann in gewaltigen Stahltanks oder in den im Tessin üblichen grossen Eichenfässern bis zu etwa 1500 Liter vorgenom-men werden. In jüngerer Zeit wird auch barrique vinifiziert; das heisst die Reifung erfolgt in neuen oder einjährigen Eichenholz-fässchen mit 225 Litern Fassungsvermögen. Diese Vinifikationsart ist in Bordelais oder im Burgund schon längst heimisch, ist aber in der Weinwelt zur Modesache geworden oder „im Trend“ wie man sagt.
Man soll nicht nur dauernd von einer schönen Sache reden, sondern zur Tat schreiten. Ich hatte kürzlich Gelegenheit, die Weinausstellung der Gebrüder Matasci in Tenero zu besu- chen. Sie besitzen selber keine Weingüter, kaufen aber den Wein von 1600 privaten Pro- duzenten auf. Sie keltern etwa einen Viertel des gesamten Tessiner Weingutes und schei- nen recht pfiffige und kreative Weinhändler zu sein.
Ein junge Kreation ist eine Merlot-Trilogie, die sich „Gli Ucceli“ nennt, nämlich „Il pichio rosso“ (Merlot rosso), „La colomba“ (Merlot rosato) und „Il martin pesca-tore“(Merlot bianco). Sogar auf die Locarneser Filmfestspiele ist eine weitere Trilogie entstanden mit einer Etikette, die sich über drei Flaschen verteilt und den typischen Leoparden nur voll- ständig zeigt, wenn man die drei Flaschen richtig nebeneinander stellt.
Nun muss ich noch beifügen, dass ich gewöhlicher Milchtrinker nicht nur am Merlot genippt, sondern ein paar Informationen gesammelt habe, weil ich ein Laie bin. Wenn ich die wirk- lichen Weinkenner und jene, die sich dafür halten, um Nachsicht bitte, so nehme ich mir jedoch heraus, mich auf meine eigenen Sinne zu verlassen.
Das Motto heisst auch hier: Probieren geht über studieren. Nur meine ich damit, (alle Wis- senschaft, Professionaliät und Gelehrsamkeit in Ehren), die eigene Erfahrung und die be- wusste Auseinandersetzung hätten Priorität.
Für den Anfang habe ich mir zum Abendessen den Merlot rosso verschrieben, tagsüber, vor allem in sommerlicher Hitze, bevorzugte ich den Merlot rosato und zum Fisch wagte ich mal einen Merlot biancho..., was nicht heissen will, dass mein bevorzugter Tropfen anders- wo wächst.
Salute! Bis bald!
Ihr Pankraz F.
(1) Überarbeitete Fassung meiner Kolumne im "Fridolin, Schwanden" vom 21. August 1997.
(2) Die Angaben sind heute rund 20 Jahre alt und können sich verändert haben. Es macht keinen Sinn, die Daten zu aktualisieren, da die ganze Kolumne die Stimmung und Verhältnisse wiedergibt.
Neuere Daten sind aus den folgenden Tabellen erichtlich:
Die grössten Weinproduzenten des Tessins
(nach Volumen und nicht nach Rebfläche - Liste erstellt durch Ticinowine 2006 für www.ernestopauli.ch)
Rang |
Name |
Anzahl Flaschen p/a (versch. Formate) |
1 |
Cantina sociale Mendrisio |
ca. 660'000 |
2 |
Matasci Fratelli SA, Tenero |
ca. 500'000 |
3 |
Vinatttieri SA, Ligornetto |
ca. 400'000 |
4 |
CAGI, cantina Giubiasco SA |
ca. 600'000 |
5 |
Vini & distillati Angelo Delea, Losone |
ca. 500'000 |
6 |
Tamborini vini SA, Lamone |
ca. 600'000 |
7 |
Casa vinicola Gialdi SA, Mendrisio |
ca. 500'000 |
8 |
I vini di Guido Brivio SA, Mendrisio |
nicht bekannt |
9 |
Valsangiacomo SA, Mendrisio |
ca. 200'000 |
10 |
Chiericati SA, Bellinzona |
ca. 80'000 |
11 |
Agriloro SA, Arzo |
nicht bekannt |
12 |
Terreni alla Maggia SA, Ascona |
ca. 110'000 |
13 |
Chiodi SA, Ascona |
ca. 50'000 |
14 |
Carlevaro SA, Bellinzona |
ca. 100' |
QUELLE: http://www.ernestopauli.ch/wein/schweiz/SchweizTessin.htm
Die grössten Weinbauregionen
Mendrisiotto mit einer Weinbaufläche von ca. 339 ha (34,6 % der Gesamt-Rebfläche des Kantons),
Bellinzona (ca. 196 ha),
Locarno (ca. 184 ha),
Lugano (ca. 178 ha),
Blenio (ca. 46, ha),
Riviera (ca. 33 ha),
Leventina (ca. 25 ha)
Maggiatal (ca. 11 ha).
Das Misox wies im Jahr 2005 ca. ca. 32 ha Rebfläche auf ( ca. 30,5 ha rot und ca. 1,3 ha weiss, ca. 27,2 ha mit Merlot).
Die besten Lagen befinden sich zwischen dem Laggio Maggiore und dem Luganer See sowie Bellinzona und Locarno. Die wichtigsten Weinbauorte sind Arzio, Ascona, Bellinzona, Beride, Breganzona, Cademario, Corteggia, Lamona, Locarno, Lugano, Mendrisio, Monteggio, Purasca und Rivera
Quelle: http://www.daldini-vini.ch/de/index.php
Bilder
Oben: http://www.essen-und-trinken.de/news/den-richtigen-wein-zum-essen-finden-1025915.html
Mitte: http://www.daldini-vini.ch/de/index.php
Unten:http://www.myswitzerland.com/de-ch/wein-ticino-doc-merlot.html
Hermann Hesse - Wahltessiner
oder
Museum in Montagnola, Grab in Gentilino (1)
Aussergewöhnliche Menschen sind mitunter ihrer Zeit so weit voraus, dass Ruhm und Ehre est nach ihrem Tod eintreffen. Zum Beispiel, wenn am 120. Geburtstag ein kleines Museum eröffnet wird.
So geschehen auf der Collina d’ Oro im kleinen Tessinerdorf Montagnola, kaum hundert Schritte vom Dorfplatz mit seiner grossen Grasrondelle und den schattenspendenden Bäu- men entfernt. Präsziser: an der verwinkelten Ra Cürta 2, in der Torre Camuzzi.
Dieser Turm ist nur ein Teil eines ganzen Gebäudekomplexes, der von einem subtropisch anmutenden Terrassengarten umgeben ist. Für die eigenwillig-charmante Architektur dieser palazzoartigen Villa ist der Tessiner Baumeister Agostino Camuzzi verantwortlich. Er war seinerzeit für den Zaren Nikolaus I. in St. Petersburg tätig. Und eben in diesem Hause hatte von 1919 bis 1931 der Mann gelebt, für den nun hier eine Gedenkstätte eingerichtet wor- den ist.
Sie wissen - der Mann war Hermann Hesse (1877-1962), der „in aller Welt meistgelesenste deutschsprachige Autor des 20. Jahrhunderts“, wie ihn der Suhrkamp-Verlag in seinem Hesse.Buchprospekt würdigt.
Bei der Eröffnung, am 2. Juli 1997, meinte Volker Michels, der Herausgeber der Werke von Hermann Hesse im erwähnten Suhrkamp und im Insel Verlag: „Nun endlich, 35 Jahre nach seinem Tod hat der Dichter, dem der Tessin seine schönsten Beschreibungen verdankt, Beschreibungen, die diese Landschaft inzwischen zu einem Gegenstand der Weltliteratur gemacht haben, wieder einen Aufenthaltsort in seiner Wahlheimat gefunden...“.
Allerdings hatte das Vorhaben, ausgelöst durch Hesses Sohn Heiner, eine ähnliche Vor- geschichte wie viele andere idealistische Bestrebungen. Die öffentliche Hand hat meistens taube Ohren, solange private und kommerzielle Interessen Dritter die Gemeinnützigkeit garnieren.
Eine Berliner Kunststiftung und eine Spendenaktion zur Rettung der Casa Camuzzi schie- nen ein Hoffnungsschimmer. Indessen war aber die Liegenschaft an eine private Käufer-gruppe gegangen, die Ferien- und Eigentumswohnungen plant. Nur dank der beherzten Aktion des Malers und Graphikers Jean Olaniszyn konnte wenigstens der Torre angemietet und die Hesse Gedenkstätte geschaffen werden. Dort hat nun auch die Associazione Amici Museo Hermann Hesse, die das Museum verwaltet, ihren Sitz.
Bereits im Entrée riecht man noch die Farbe des hellen Anstrichs, ehe man die Steintrepp- chen hinaufsteigt. Man kann die Schreibmaschine Hesses bestaunen, seinen Schreibtisch auch, dazu die unter Glas ausgebreiteten Glückwünsche des damaligen Bundeskanzlers Konrad Adenauer zum Hesses 75. Geburtstag, Briefe von Theodor von Adorno, die Einla- dung von T. S. Eliot vom 24. Februar 1922 zum Tee ins „Bristol“ in Lugano u.a.m. Wo man sich umschaut begegnen einem Heines Zeichnungen, Aquarelle, sein Malkasten, selbst der Überseekoffer und sein weisser Anzug von seiner Indienreise im Jahre 1911, ja, sogar viele seiner Brillen da, inklusive Brillenrezept: links -1.0 sph; rechts: -2.75 sph.
Hübsch und eindrücklich ist die Schrift „Erinnerungen der Söhne an ihren Vater Hermann Hesse“, in der Bruno, Heiner und Martin Hesse zu Worte kommen. Besonders gefreut hat es mich, ein von Bruno und Heiner handsigniertes Exemplar erwischt zu haben.
Ein kleine Beziehungsfranse führt nämlich in mein eigenes Haus; denn da erinnert ein von Bruno Hesse gemaltes Bild, das vor vielen Jahren den Weg zu uns gefunden hat, an eine persönliche Begegnung. Auf der Oschwand ob Herzogenbuchsee, wo Bruno Hesse lebte, hatte ich mit meiner Frau das Privileg, das Atelier von Cuno Amiet zu besichtigen, ein Ort, wo Hermann Hesse und sein Sohn Bruno freundschaftlich ein- und ausgingen... und plötz- lich wird so der Besuch des kleinen Hesse-Museums zum Assoziationspunkt und führt zum privaten Erlebnis.
Mit einem Hesse-Zitat will ich aber sofort wieder auf den öffentlichen Pfad zurückführen. Sein Leben war alles andere als linear; vielleicht sind deshalb seine Erkenntnisse heute noch gültig. Auf dem vorhin erwähnten Schreibtisch ist die folgende Aussage noch in Origi-nalhandschrift zu sehen: „Kriege führen auch die Ameisen; Staaten haben auch die Bienen. Deine Seele sucht andere Wege, und wo sie zu kurz kommen, bleibt dir kein Glück“.
Falls Sie einmal von Lugano nach Ponte Tresa fahren, machen Sie doch den kleinen Ab- stecher. Sie werden in Gentilino auch Hesses Grab finden und vis-ä-vis die toskanisch an- mutende Anlage der Kirche Sant’ Abbondio zu der 40 Zypressen hinführen.
Bis bald! Ihr Pankraz.
(1) Überarbeitete und mit Bildern versehene Fassung meiner Kolumne im "Fridolin, Schwanden", Sommer 1997.
(2) Hermann Karl Hesse (Pseudonym "Ernst Sinclair". Geboren 2. Juli 1877 in Calw (Königreich Württemberg) Deutsches Reich,
gestorben 9. August 1962 in Montagnola TI, Schweiz. Deutschsprachiger Schriftsteller, Dichter und Maler. Bekanntheit erlangte er mit Prosawerken wie "Siddhartha" oder "Der Steppenwolf" und mit seinen Gedichten. 1946 wurde ihm der Nobelpreis für Literatur und 1954 der Orden "Pour le mérite für Wissenschaften und Künste" verliehen.
Als Sohn eines deutsch-baltischen Missionars war Hesse durch Geburt russischer Staatsangehöroger. Von 1883-1890 und ab 1924 war er Schweizer Bürger. Dazwischen besass er das württembergische Staatsbürgerrecht. (www. wikipedia.com)
Bilder: Schrift "Hesse: Romantische Lieder" und Hesses Füllfederhalter (oben links), Hut, Koffer und Schirm Hesses (oben Mitte), Hesses Schreibmaschine (oben rechts). Eine seiner Brillen Hesses (unten rechts). Grabmal von Hesse in Gentilino (unten links).
Quelle:http://www.hessemontagnola.ch
Bild: https://prezi.com/8a85j1h4ku5i/carmen-georges-bizet/
Zigeunerin auf dem Castelgrande erstochen
oder
Herr Bizet lässt grüssen (1)
Insgesamt sechsmal wird Carmen, die verführerische Arbeiterin in der Zigarettenfabrik in Se-
villa, erstochen: am 21., 22., 26., 28. 29. Juli und 2. August 2000. Sie verdreht dem Offizier
José den Kopf, lässt ihn aber wegen eines attraktiven Matadors (Stierkämpfers) wieder fal-
len. Der verschmähte José wird straffällig und schliesst sich einer Schmugglerbande an. Als
Carmen nichts mehr von ihm wissen will, ersticht sie der vor Eifersucht rasende José...
Tja, so leicht schlägt die stärkste Kraft der Welt, die Liebe, in zerstörerische Leidenschaft um.
Eifersucht, so heisst es, sei eine Leidenschaft, die mit Eifer sucht, was Leiden schafft. Die
Geschichte, die aus dem Leben gegriffen ist, hat Prosper Mérimée geschrieben; Henri
Meilhac und Ludovic Halévy haben daraus eine Oper geschaffen, und Georges Bizet hat die
heute weltberühmten Melodien dazu komponiert.
Die Oper „Carmen“ war zwar bei der Uraufführung am 3.3.1875 in Paris ein Flop. Erst die
Aufführungen in Wien und in Italien kamen an. Leider konnte Bizet der Erfolg nicht mehr
auskosten; er starb noch im Jahr 1875.
Nun wird das „Opernfest iom Castelgrande“ wie die Tessiner Zeitung schreibt, zum „Opern-
genuss für besondere Ansprüche“.
Und ob! Ein Bühne von 22 Metern Breite und 113 Metern Tiefe steht einer gewaltingen Zu-
schauertribüne von 60 Metern Breite und 30 Metern Höhe mit 40 Reihen für insgesamt
3202 Plätze gegenüber.
130 Tonnen Material wurden aufgebaut. 3000 Meter Kabel wurden verlegt, die 130 Projek-
toren speisen. Die Bühne wird von drei Türmen mit zehn Metern Höhe angestrahlt. Das
Ganze ist zwischen die trutzigen Mauern des Castelgrande in Bellinzona eignefügt und er-
hält eine zusätzliche, atemberaubende Kulisse mit den Anhöhen rund um die tessischische
Hauptstadt und den in der südlichen Nacht pittoresk beleuchteten Burgen und Kirchen.
Freilich ist das Ziel, mit er „Opera Bellinzona“ Akzente setzen und eine Tradition entstehen
zu lassen, ein kühnes Unterfangen und finanzielles Wagnis.
Beste Kräfte wurden deshalb engagiert. Die Regie obliegt dem bekannten Theaterregisseur
Flacio Trevisan aus Venedig. Unter Leitung von Carlo Palleschi spielt das Tschajkowski-Sin
fonie-Orchester von Moskau. Mario Moretti hat mit dem Chor Opera Bellinzona den Gesangs-
part einstudiert. Den Lichtzauber kreiert Wolfgang Zoubek, der sich schon in Salzburg, Bay-
reuth und Bregenz einen Namen gemacht hat.
Namhafte Solisten in doppelter Besetzung tragen die Soloparts. Carmen wird durch Gloria
Scalchi und Sarah M’Punga verkörpert. Patrizia Pace und Eszter Sümegi belieben als Mi-
caela. Daniel Munoz und Ernesto Grisales stellen Don Josö dar. Als Matador Escamillo tre-
ten Marco Chingari und Kowaljow Vitalij auf.
„Carmen“ ist bereits der zweite Auftritt auf dem Castelgrande, nachdem 1999 „Der Barbier
von Sevilla“ zu gefallen wusste. Im nächsten Jahr soll „Aida“ und 2002 „Nabucco“ über die
Bühne gehen.
Nur eines muss auch gesagt sein – wer sich den Genuss dieses Opernfestes in ungewöhn-
licher Umgebung leistet, ziehe sich warm an; denn ein zügiger Nachtwind streicht ungemüt-
lich über die Ränge.
Karten erhält man über Tel. 0848 800 800 ider Internet: www.ticketcorner.ch.
„Sur la place, chacun passe, chacun vient, chacun va....“
Bis bald ! Ihr Pankraz F.
(1) Leicht überarbeitete Fassung meiner Kolumne im "Fridolin" vom 10. August 2000.
Quelle: https://www.8notes.com/scores/2888.asp
oder
Wenn man mit einer Blume spricht... (1)
Man kann auf Landkarten suchen wie man will, Orgnana lässt sich kaum finden. Vielleicht entdeckt man es auf lokalen Vogelschaukarten oder auf professionellen Wanderkarten, wenn man die Geduld aufbringt.
Soviel sei verraten – Orgnana ist keine selbständige Gemeinde. Es ist vielmehr ein Weiler oberhalb von Magadino, gewissermassen Grenzgebiet am Waldrand, ehe steile, dunkle Kastanienhaine gegen die Alpe di Neggia aufsteigen. Hier in diesen luftigen Höhen über dem Lago Maggiore steht ein älteres, gemütliches Ferienhaus mit grünem Umschwung. Es ist gegen die Blicke von Passanten auf der ganzen Länge des Anwesens durch üppige und dichte blaublütige Hortensiensträucher geschützt. Wie zwei verträumte Wächterinnen ste-hen auf dem Umschwung zwei geheimnisvolle Birken. Ein stets gurgelndes kaum sichtba-res Bächlein zieht talwärts. An der talseitigen Grenze der Parzelle haben sich Rebstöcke entwickelt und lassen auf den Herbst süsse Trauben erwarten. Das kleine Haus ist von Steintreppen mit knorrigen Geländern umgeben. Im Schatten des Gebäudes wurde ein Sitzplatz angelegt, dem zwei kräftige Palmen Gesellschaft leisten. Hier ereignet sich in aller Stille eine kleine Geschichte, die nicht weltbewegend ist. Es gibt keine Zeugen; aber es gibt zwei Beweise wie sich noch herausstellen wird.
Auf diesem Sitzplatz liest es sich leicht. Schon lange nicht mehr habe ich so intensiv und so viel gelesen wie in diesen sonnigen Tagen, umgeben vom Blau und Grün der Hortensien und deren eigentlichem, fast etwas schwerem Duft, den borstigen Stämmen und messer-scharfen, geknickten Palmenblättern. Im nahen Kastanienhain machten vielerlei Vögel munteren Lärm und lebhaftes Gezwitscher. Ich habe mehrere Bücher über Bäume und Pflanzen dabei, und wie es sich zur Zeit in Mode ist, über deren Beziehungen zu den Menschen.
Doch da steht am Fusse der Palmen in einer kleinen, von einem aus vielen Natursteinen bestehenden, umgebenen Rabatte einsam und allein ein kaum halbmeterhoher Rosen-stock. Vier offene Blüten und ein Knopf! Ein samtenes, tiefes Rot zieht mich in den Bann. Am Morgen kleben silbrige Wassertropfen dran. Ein wunderschönes Bild! Ich staune, was die Natur aus eigener Kraft hervorbringt.
Schön! Das wär’s dann.
Ich wende mich meiner Lektüre zu und lasse Rosen Rosen sein. Peter Tompkins und Chri-stopher Bird „Das geheime Leben der Pflanzen“. Untertitel: „Pflanzen als Lebewesen mit Charakter und Seele und ihre Reaktionen in den physischen und emotionalen Beziehungen zum Menschen“. Aha, bemerken Sie, jetzt begibt sich da wieder mal einer auf den Esoterik-Trip! Ist ja total „in“! Allerdings muss ich gestehen, bereits vorher den behäbigen Schmöker von Jostein Gaarder „Sofies Welt“, einen Roman über die Geschichte der Philosophie, mehr oder weniger konzentriert verschlungen zu haben. Das über Jahrtausende alte Fra-gen nach dem Sinn des Lebens und die vielfältigen Antworten sind in diesem Roman in ihren wichtigsten Auffassungen, Deutungen und Schulen wie an einer unendlich langen Wäscheleine aufgehängt. Wahrscheinlich hat mich dieser Lesemarathon für das Buch über das geheime Leben der Pflanzen etwas aufgeweicht und empfänglicher gemacht. Noch klingt in mir nach: Das einzige, was man brauche, ein guter Philosph zu werden, sei die Fähigkeit, sich zu wundern.
Schon in der Einleitung beginnt das Wundern und lässt mich bis zum Schluss nicht mehr los. Das stehen gesicherte, das heisst auch von Dritten vollziehbare Experimente, die auf-decken, dass Pflanzen sinnliche Wahrnehmungen haben, sogar Gedanken lesen, sich be-wegen, Schmerzen empfinden, seltsame Signale aufnehmen, ja, gewissermassen „beseelt“ sind und nicht bloss Objekte der Natur. Ich will Ihnen den Inhalt des Buches hier nicht er-klären, aber seine Wirkung auf mich. Denn jetzt erst beginnt meine Geschichte.
Immer häufiger sehe ich beim Lesen auf und blicke zum Rosenstock. Eine eigentümliche Faszination oder Schwingung scheinen aufzukommen. Plötzlich sehe ich die dornenvolle Pflanze als Teil der gleichen Schöpfung, in der auch ich lebe.
Wenn diese Rose eine Persönlichkeit hätte, müsste eine Kommunikation zwischen mir und ihr möglich sein. Vielleicht gibt es etwas über meinen Sinnen, mit dem ich mich ausdrücken und orientieren kann, das in dieser Rose ansprechbar ist. Ja, ja, das ist gut und recht – man kann sich solange in etwas hineinsteigern, bis es vermeintlich so ist.
Eine unbekannte Kraft zieht mich zur Rose hin. Ich betrachte sie von nahe und spreche sie an: „Wenn du mich tatsächlich verstehen könntest, würde ich dir sagen wie schön du bist.“ Ich rieche an der Blume und streiche behutsam über eine geöffnete Blüte. Es scheint so, als ob die vier Blüten bereits zu welken beginnen, während sich die fünfte erst als Knopf entwickelt. „Ich denke, liebe Rose, es ist noch nicht Zeit zu verwelken.“ Und ich spreche ruhig, aber unablässig auf die Rosenblüten ein, nicht ohne mich vorher mit Blicken links und rechts vergewissert zu haben, dass mir niemand zuschaut. Ich könnte ja wirklich für verrückt gehalten werden. Leute, die allein vor sich hinsprechen, sind immer irgendwie suspekt.
Ein Unwetter am Abend strapaziert die ungeschützte Rose recht gehörig. Am andern Mor-gen sieht sie recht zersaust aus. Lachen Sie nicht, ich spreche der Rose gut zu und be-rühre sie sanft. Ich wünsche, dass sie sich wieder erhole und aufraffe. Sie werden mich einen Lügner nennen, es ist trotzdem wahr, bis in den Nachmittag hinein hat sich meine Rose merklich erholt. Nun mache ich ihr morgens, mittags, abends, ja, immer wenn ich an ihr vorbeigehe, meine Aufwartung. Immer dasselbe Ritual: begrüssen, berühren, sprechen und hinhören. Mit der Zeit überkommt mich das eigentümliche Gefühl, in eine gemeinsame Atmosphäre mit der Rose zu treten, wenn ich mich ihr nähere. So wie man in Ofennähe Wärmeausstrahlung wahrnimmt, glaube ich irgend etwas Unbeschreibliches, aber Wahr-nehmbares zu verspüren, je näher ich meiner Rose komme. Alles Einbildung, werden Sie zur recht einwenden. Merkwürdigerweise behält die Rose, die sich irgendwie erholt zu ha-ben scheint, ihren Zustand und blüht, blüht, blüht. Am zweitletzten Tag vor meiner Abreise geht die fünfte Blüte auf, ihr Rot scheint um eine Spur heller, als die der andern vier. Sie verstehen, dass ich die immer privateren Gespräche mit der Rose nicht hier ausbreiten will. Aber Sie spüren wie eine Beziehung entstanden ist, die durch mein Alltagsritual und meine Gespräche – mindestens in meinem Kopf und in meiner Seele – Realität geworden ist. Die Erkenntnis auch, zur gleichen Materie und zum gleichen Universum gehören...
Gewiss nehme ich Ihnen nicht übel, wenn Sie mich für einen Spinner und das Ganze für erstunken und erlogen halten. Dass man mit einer Katze und mit einem Hund spricht, das würden Sie mir noch abnehmen, aber mit einer Pflanze...? Nein, das ist zuviel verlangt! Ich akzeptiere das, vermag Sie aber vielleicht doch zu verblüffen. Richtig: die zwei Beweise.
Als ich mich von der Rose verabschiede, die trotz Wind und Wetter, kein einziges Blüten-blatt verloren hat, berühre ich sie sanft wie ich das täglich getan habe. Doch nun fallen zwei rote Blütenblättchen zur Erde. Für mich sind es Tränen des Abschieds. Der Sommer wird zur Neige gehen, die Rose verblühen. Nächstes Jahr – so Gott will – werde ich sie wiedersehen. Meine Rose von Orgnana.
Sprechen Sie doch auch mal mit Ihren Blumen in Ihrem Garten.
Bis bald! Ihr Pankraz.
(1) Leicht überarbeitete Fassung mener Kolumne im "Fridolin" vom 17. August 2000, Frontpage.
Bilder: http://etresoi-e.com/blog/wp-content/uploads/2014/09/Rose.jpg und http://www.brand-bestattungen.de/uploads/pics/rose.jpg
Francesco Antonio Branca - Bernardino Calmi - Giovan Antonio Caldelli -
Domenico Gelosa - Giuseppe Antonio F. Orelli - Girilamo Tirinanzi
e Fra Roberto Pasotti
oder
Die sieben Glorreichen vom Sacro Monte in Brissago (1)
Nein, das sind nicht Namen von Ausländern, die ein Einbürgerungsgesuch gestellt haben. Es sind auch keine Fussballer. Sie sind aber auf einen Nenner zu bringen, der da heisst: Sacro Monte in Brissago.
Wie sich die Zeiten doch ändern! Früher trugen fromme Pilger ihre Sorgen und Nöte den stotzigen, bewaldeten Hang hinauf, entlang des tückisch wilden Torrente. So heisst der Wildbach, der in Brissago früher Mühlen antrieb und dann in den Lago Maggiore mündet. Es ist die Via Crucis, der Kreuzweg, der in gemauerten Stationen auf Bildern den Leidens-weg auf den Kalvarienberg darstellt. „Erfinder“ der Kreuzwege soll der Franziskanerpater Bernardo Caimi sein. Er bildete 1491 in Varallo im Piemont nach seiner Rückkehr von Jeru-salem die Orte des letzten Ganges von Jesus Christus auf Golgatha nach. Das Volk sollte so entlang der Kreuzwegstationen emotionell am Leben und Leiden Christi Anteil nehmen.
Da und dort in Europa wurden Kreuzwege auf eine Anhöhe errichtet. (In Näfels haben die Franziskaner 1991 vom Hilarirank bis zur Brand einen erstellt.)
Die Via Crucis von Brissago hat seine eigene Geschichte. 1709 legte Baumeister Girolamo Tirinanzi einen Pfad durch die Schlucht und errichtete zu Ehren der Schmerzhaften Mutter-gottes auf dem Monte Capriccio, später Monte Addolorato, einen Bildstock und kurz danach die erste Wallfahrtskapelle. Dann kam der Kaufmann Francesco Antonio Branca, genannt „Il Moscovita“, der in Peterburg reich geworden war. Er integrierte von 1767-1773 den be-stehenden Rundbau in seine neue Privatkapelle. Hinzu kamen ein zweijochiger Längssaal, ein Pseudoquerschiff, eine Sakristei und ein Priorhaus. Von dieser Kapelle klar abgerückt entstand 1767 die Cappella del Calvario, eine breite Nische, die Giovan Antonio Caldelli mit Fresken, die heute verschwunden sind, versah. Domenico Gelosa brachte drei grosse hölzerne Kruzifixe dazu. 1775/76 malte Giuseppe Antonio Felice Orelli die Kreuzwegstatio-nen-Häuschen aus. 1775-1778 schufen Giuseppe Antonio F. Orelli und Giovan Antlnio Cal-delli die Innenfresken der Kirche. Die Rokokostuckaturen stammen von einem Künstler namens Visetti von Valsolda.
Heute tragen schwerreiche Leute ihre Kohlen an die Hänge oberhalb Brissago mit dem
herrlichen Ausblick auf die Isola die Brissago und klotzen ihre Feriensitze in breitausladen-den Ferienhäusern und Villen an den Hang. Was wunder - wenn da die alte, ehrwürdige Via Crucis in Vergessenheit geriet. Wer geht schon ins Tessin, um zu beten, und wenn schon sicher nicht nach Brissago.
Hier aber folgte Fra Roberto Pasotti, ein Kapuziner aus heutiger Zeit, dem Ruf des schei-denden Pfarrers nach Brissago. Dieser wollte sich nach über 50 Jahren nicht aufs Altenteil zurückziehen, ohne ein markantes Zeichen der Seelsorge zu setzen. Fra Roberto malte die Via Crucis, die im Laufe der Zeit Schaden gelitten hatte, neu. Seine künstlerische Ader hat-te sich in ungezählten Bildern, mehr noch in religiösen oder weltlichen Glasfenstern ge-zeigt. Das Museo Epper Ascona widmete ihm eine Ausstellung, und in der Chiesa Sacra Famiglia in Locarno hängen farbenfrohe Fenster von ihm. Er stellte die ehrwürdigen, fast vergessenen Stationen wieder in Stand. Die wackeren Bildstöcke, die wohl bis zu drei Me-ter hoch und höher ragen, erhielten ein neues Outfit, gelb-rote Terrakottatöne leuchten von deren Fassaden wieder durch den Wald. Die Bilddarstellungen der Kreuzweges auf gros-sen Eternitplatten malte Fra Robert mit modernen Eigenkompositionen in kräftigen Farben.
Als Zeichen der Dankbarkeit für die wundersame Rettung aus der Seenot stehe da, so mei-nen die einen, nun das Kirchlein S. Addolorata. Ein Ort der Kraft, der seinesgleichen sucht. Der gefühlvoll restaurierte Bau, obwohl nur Kapellengross, aber recht hoch, führt optisch in Stufen direkt auf das wunderbare Standbild der Schmerzhaften Maria mit symbolischen sie-ben Schwertern hin. Zu deren Füssen liegt der vom Kreuz abgenommene Christus darnie-der. An den Gewölben des Chors sind Karl Borromäus und Christopherus gemalt. Das Chor flankieren noch im Schiff zwei überlebenensgrosse Wandgemälde von Petrus und Paulus. An den Seitenwänden sind Antonius mit dem Jesuskind, Franziskus mit den Wundmalen, Maria mit ihren Eltern Joachim und Anna wie auch die heilige Rosa von Lima dargestellt.
Die Schwingungen und Energien in dieser Kirchen sind aussergewöhnlich. Wer ein Senso-rium dafür hat, wird auf unbeschreibliche Ebenen entrückt und kann die Kraft, die von die-sem Ort ausgeht wahrnehmen. Offensichtlich ist der Standort dieser kleinen Kirche nicht zufällig gewählt. Wegen drohendem Vandalismus ist die Kirche nur jeweils Dienstags und Freitags von 14-16 Uhr geöffnet. Signora Anita, die übrigens Präsidentin des Kunstvereins von Brissago ist, öffnet diesen Ort interessierten Besuchern aus Idealismus und Überzeu-gung. Vor der Kirche - man sieht nur die laubbaumbewaldete Schlucht - ist der Blick frei auf die erwähnte alte Kreuzestrilogie mit Christus, flankiert von den Häschern. Hier endet der Kreuzweg, da beginnt gleichzeitig ein neuer geistiger Anfang. Die Stille wird nur durchbro-chen vom Rauschen der Blätter im Winde und vom Torrente, weit unten in der Schlucht, den man nur hört, aber kaum sieht. Die Stationen-Bildstöcke von Brissago bis hier hinauf sind nur unweit von einander entfernt und säumen im letzten Stück das Strässchen, vorher stehen sie am steil gewundenen gepflästerten Pfad, der in zehn Minuten gemütlich zu machen ist.
Dass heute jeweils beim astronomischen Sonnenuntergang „Musik für Bäume“ eine Viertel-stunde lang vom Tag in die Nacht hinüberbegleiten, kommt einem Glarner bekannt vor. Im Richisau hatte der gleiche Klangkünstler Walter Faehndrich den „eletronische Betruf“ ge-schaffen. Der Künstler von heute hat diese Stätte der Kraft wahrgenommen und das Be-sondere am besonderen Ort installiert.
Der einzige von den glorreichen Sieben, der noch lebt, ist Fra Roberto Pizotti, Er ist Con-ventuale im Kapuzinerkloster S. Maria in Bigorio. Bei der Einweihung des restaurierten Kreuzweges im vergangenen August war er nicht dabei, sein Beitrag war das Werk, nicht die Feier, hiess es. Zeugnis von seine vielen Werken gibt der schön gestaltete Farbband „Fra Roberto - Sui vetri.“(Lugano 2000).
Bis bald! Ihr Pankraz F.
(1) Überarbeitete Fassung meiner Kolumne im "Fridolin", Schwanden, vom 20. September 2001. Bilder wurden erst jetzt hinzugefügt, sowie alle weiteren Fussnoten.
Bild oben:
https://it.wikipedia.org/wiki/Sacro_Monte_di_Brissago#/media/File:Sacro_Monte_DSC_7746.jpg
Sacro Monte
Der Wettstreit zwischen der Architektur und der wilden Natur scheint seinen Höhepunkt im Sinne der alten Baumeister und Brissagheser Architekten für Werke mit grosser Theatralik iIm Sacro Monte „Gesamtkunstwerk" gefunden zu haben. Im östlichen Ortskern führt die Via Gerusalemme zur mit Oleander geschmückten Piazzetta, die zu den Treppen des Calvario führt. Durch das Atrium der ersten Kapelle, die als Eingangstür zu verstehen ist, kann man den Stationen der Via Crucis folgen. Beeindruckend ist auch die Steigung, die den Weg, den die Mühlen ihrerzeit säumten, kreuzt, um schliesslich zur Kapelle „die Giudei" oder der Geisselung, einem kleinen achteckigen Gebäude mit einem Türmchen und Atrium, in Höhe der befahrbaren Strasse zu gelangen. Die Gelb- und irdenen Rottöne der Kirche bilden einen starken Kontrast zu dem grünen Waldboden, auf dem die Kirche auf einem hohen Pfeiler mitten im Tal steht. Der Ursprung des Sacro Monte ist auf das Jahr 1709 festgelegt, als der Baumeister Girolamo Tirinanzi aus Cadogno einen Weg über das Tal herrichtete und auf dem Pfeiler des sogenannten Monte Capriccio (später Monte Addolorato) einen ersten Tabernakel zu Ehren der Madonna Addolorata aufstellt, der sofort mit einer Laterne zur ständigen Erinnerung aufgestockt wird.
aus: www.brissago.ch/index.php?node=344&lng=5&rif=69e386fba3
Fra Roberto Pasotti, OFMCap,
Bigorio
Geboren 1933 in Bellinzona
Eintritt in den Kapuzinerorden 1954
Vielseitiger religiöser Künstler
Bild: aus: "Il caffè" vom 21. September 2013: Giuseppe Zois: Un incontro con Fra' Roberto, l'uomo del fede. "il colore amaro dell^indifferenza."
Die fünf Hungertürme in Camorino TI
oder
General Dufour lässt grüssen! (1)
Sieht man sich die Landschaft südlich von Bellinzona zwischen der Sementina und Giubi-asco mit dem am Hang gelegenen Dorf Camorino genauer an, wittert man, dass hier ein strategisch wichtiger Ort ist. Zu allen Zeiten wurde hier der Durchgangsverkehr kontrolliert. Nicht nur die Prachtsburgen im etwas nördlicheren Bellinzona künden davon. In der Tat ist leicht südwärts die Verteidigungslinie von General Dufour überliefert. Schon von weitem entdeckt man mitten im abfallenden Rebland zylinderförmige Rundtürme mit kegelförmi-gem, rostigem Blechdach. Zwei sind aus dem Tal sichtbar, fünf sind es im ganzen.
Der entfernteste, versteckte, ist 1943 von der Eidgenossenschaft der Azienda Elettrica Bellinzona abgetreten worden. Die andern vier gingen 1947 unentgeltlich an den Kanton Tessin. Der Tessiner Schriftsteller und Kulturpolitiker Francesco Chiesa (1871-1973) meinte damals:“... das sind zweifellos wichtige Zeugen unseres Landes, denen wir den nötigen Respekt zollen müssen, es wäre sehr bedauerlich („deplorevole!“), solche Anlagen der Gefahr des Verfalls auszusetzen...“
Und ob! Der Zeitgeist– wie viele Beispiele zeigen - stand nicht auf Erhaltung verlassener Türme, militärischer Einrichtungen schon gar. Teils wurden die inneren Balkenwerke ge-klaut, die Treppensteine für andere Zwecke abgeholt, ein Turm wurde gar durch Brand-stiftung verwüstet. Nun wurde aber am 11. Januar 2001 die „Associazione Fortini di Camo-rino” gegründet, der Verein, der sich sukzessive um die Wiederherstellung und Erhaltung der “Hungertürme“ kümmert.
Das teilweise verlotterte Steinwerk ist ein Stück Tessiner- und Schweizergeschichte. 1848 schwappte eine Welle von Revolutionen durch Europa, geschürt aus einer Mischung demo-kratischer, liberaler, antifeudaler und sozialer Hoffnungen. Es gärte in Frankreich, in Deutschland, in Italien und Österreich-Ungarn. Die Schweiz war eine republikanische, demokratische Insel, umzingelt vom antiliberalen, monarchischen Europa. Sie wurde zum Zufluchtsort politischer Flüchtlingsströme und Verschwörer und geriet unter Druck von Österreich, und zwar von Süden her. Die Bedrohung kam aus der Lombardei und Venezien, die zum österreichisch-ungarischen Kaiserreich gehörten. Ungezählte Tessiner fanden dort Arbeit. Als Österreich im brodelnden Mailand wieder die Oberhand gewann, was den Tes-sinern eigentlich nicht ungelegen kam, flohen Tausende von Flüchtlingen in die Schweiz, ins Tessin. In den Augen der Austrianer wurden die Ticinesi dadurch zu Mitverschwörern. Sie errichteten 1848 gar eine Handelsblockade und drohten mit Militäraktionen gegen die Schweiz. Unter solcher Pression schickte die Eidgenossenschaft Truppen ins Tessin, wies alle über 18-jährigen Flüchtlinge aus und verschloss sich neuen Flüchtlingsströmen. 1852 verwies die Tessiner Regierung 22 lombardische Kapuziner des Landes, weil sie sie ver-dächtigten, Agenten Österreichs zu sein. Als 1853 in Mailand keine Ruhe einkehrte, schickten die Österreicher 6000 Tessiner von ihren lombardischen Arbeitsplätzen nach Hause. Tausende von Saisonarbeitern wurden arbeitslos. Allein 800 Spinnerinnen aus dem Mendrisiotto, 600 Kaminfeger aus dem Verzascatal, 400 Kupferschmiede und Klempner aus dem Valcolle und viele Zuckerbäcker und Marronihändler aus dem Bleniotal waren auf der Strasse. Die Lebensmittel wurden knapp. Dazu verdarb die Kartoffelkrankheit die wich-tigste Grundnahrung. Um dem Hunger und der Armut zu entgehen, wanderten viele Tes-siner nach Australien und Kalifornien aus. Auch innenpolitisch mottete es bedenklich. Zur Wut über den österreichischen Marschall Radetzky kam der Groll auf die eigene Tessiner Regierung, die zu wenig entschlossen handle. Konservative und Liberale taten sich als „Fusionisten“ zusammen und gewannen 1854 handstreichartig die Nationalratswahlen. Doch Bern erklärte diese für ungültig. Darauf wurde in Locarno der liberale Francesco Degiorgi erstochen. Es kam zu einem bewaffneten Aufstand.
Der Bund gab den Bau von Befestigungen im Süden von Bellinzona, die schon elf Jahre vorher geplant waren, frei. 20’000 Mann besetzten die Region, 36 Geschütze wurden auf-gestellt, um einen möglichen Angriff der Österreicher aus dem Süden abzuwehren. Die „Dufourlinie“ mit den erwähnten „Hungertürmen“ bleibt deren beredtes Zeugnis.
Vor diesem dramatischen historischen Hintergrund mache ich mich auf einen kurzen Rund-gang zu den seltsamen Bauten an den Hängen gegen das Valle Morobbio.
Der erste Turm, „Ai Scarsitt“, ist nach der ausgestorbenen Patrizierfamilie „Scarsetti“ be-nannt. Zwar wurden 1938 seine Stufen weggetragen, der relativ gut erhaltene Turm war aber privat vermietet. Dann wurden das Dach abgerissen und die Türe entfernt. Der Turm vergammelte. Heute ist er auf Initiative des erwähnten Vereins mit Kantonshilfe restauriert. Im urspünglichen Obergeschoss sind rund herum 18 Schiessscharten, im Parterre wegen der Türe zwei weniger. Ein schöner Dachstuhl und ein geschindeltes Unterdach unter dem Blechkegeldach imponieren. Der Aussenverputz ist gepflegt und die Umgebung ebenso. –
Der zweite Turm „Ai Munt“ oder „Sura ai Sturn“ („Munt“ war der dicht besiedelte Teil Camorinos, „Storni“ ebenfalls ein Patriziergeschlecht) blieb jahrelang ohne Dach. 1957 wurde es repariert. Eine gerade Holztreppe mit 18 Tritten führt zum Holzboden im ersten Stock mit 20 Schiessscharten.
Der dritte Turm „Al Mött del Riaa“, früher „Ala Pélera“, Namensherkunft unbekannt, ist nur einstöckig. Er war völlig verwuchert mit Dornbüschen und blieb so bis in die dreissiger Jahre unbeschädigt. Dann wurden Dach und Inneres durch Brandstiftung zerstört.
Der vierte Turm „Al Sass del Camósc“ steht auf einem Felsen (Gamsfelsen? Der Name würde wunderbar passen!). Man erreicht ihn über einen fünfminütigen wacker ansteigenden Waldweg und wird mit einem wunderbaren Ausblick über den Locarnese belohnt. Die Holzbalken wie die Treppensteine wurden 1943 entwendet.
Den fünften Turm „Al Pian di Bur“, findet man nach weiteren zehn Minuten Fussmarsch durch den Kastanienwald. Der Turm ist in seiner Struktur erhalten geblieben und gehört seit 1943 der „Azienda Elettrica Bellinzona“. Er wurde aber etwas vernachlässigt, was ange-sichts deren hervorragenden Geschäftsgangs schon etwas erstaunt.(!)
Der gut markierte Rundgang gibt auf diesem herrlichen Flecken Erde mit den fünf „Fortini“ eine fast vergessene Vergangenheit preis. Die Anlage veraltete bald. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde eine neue Verteidigungslinie zwischen Gordola und Monte Ceneri gezogen. Doch auch diese wurde abgelöst. Im Zweiten Weltkrieg kamen die dritte Linie zwischen Lodrino-Osogna und das Alpendispositiv San Jorio.
Die „Fontini della fame“ aber bleiben Zeugen von Hunger, Not und Konflikten. Als ich über dem Ponte vecchio, der alten Brücke, das Wasser der rauschenden Morobbia höre und wieder Giubiasco zustrebe, erinnere ich mich, dass auch unser Tal eine Letzi versperrte, auch Burgen standen und uns später als moderne Letzi der Tankgraben, mit dem ganzen Bunker- und Festungssystem des Reduit schützen sollte...
Die General-Bachmann-Gesellschaft erhält zwei Bunker der Nachwelt – den Bunker im Niederberg und im Autschachen eingangs Näfels.
Bis bald! Ihr Pankraz.
(1) Überarbeitete Fassung meiner Kolumne im "Fridolin", Schwanden vom 22. Juli 2004.
Bilder: www.ticinoweekend.ch und www.fortini-camorino.com
Kurt Hoffmann
(1910-2001)
Filmregisseur
Produzent
Drehbuchautor
Ich denke oft an Piroschka...
oder
Sterben ohne Stars und Sterne (1)
Am 27. Juli 2001 auf 10:30 Uhr war die Abdankung von Kurt Hoffmann angesagt.
Er war der wohl berühmteste Deutschen Filmregisseur der Nachkriegszeit. Dem Wunsch des Verstorbenen entsprechend fand die Trauerfeier in der Kirche zu Ronco sopra Ascona und die Urnenbeisetzung um 11 Uhr auf dem etwas höher gelegenen Friedhof daselbst statt.
Liselotte Pulver, die Frau mit dem berühmtesten Lachen der fünfziger Jahre, hat ihre Karriere als Filmstar über weite Teil ihm zu verdanken. Sie traf ihn 1952 zum ersten Mal, als der Film „Klettermaxe“ gedreht wurde und war in zehn Filmen unter seiner Regie dabei. 1955 entstand das Meisterwerk „Ich denke oft an Piroschka“, das den älteren Leserinnen und Lesern sicher noch in bester Erinnerung ist.
Angefangen hatte der am 12. November 1910 in Freiburg im Breisgau geborene Kurt Hoffmann als Regieassistent in Berlin. Schon früh war er mit seiner Familie dorthin gezo-gen. Sein Vater Carl Hoffmann arbeitete damals als Kameramann bei der UFA, der damals wohl berühmtesten und bedeutendsten Stummfilmgesellschaft. Den ersten grossen Erfolg errang Kurt Hoffmann mit „Quax, der Bruchpilot“ (1939). Der bekannte Heinz Rühmann spielte mit. Dieser drehte mit ihm bis 1971 insgesamt vier Filme. Erfolgreich war 1951 „Fanfaren der Liebe“, eine turbulente Verkleidungs-komödie. Später nahm Billy Wilder deren Motive in seinem „Some like ist hot“ wieder auf. Hoffmann liebte fröhliche Unter-haltung und drehte für sein Publikum, nicht für die Kritiker, wie er sagte. Er inszenierte aber auch ernste Themen wie „Wir Wunderkinder“ (1958), eine Satire auf die jüngere Deutsche Geschichte. Literarische Themen griff er von Thomas Mann und Kurt Tucholsky auf. Er war befreundet mit Erich Kästner. Friedrich Dürrenmatt kannte er persönlich. 1964 behandelte er die Judenfrage in „Das Haus an der Karpfengasse“. Dem Fernsehen verweigerte er sich bis auf ein einziges Interview. Hoffmann wurde mehrfach ausgezeichnet, zum letzten Mal mit dem Bayrischen Filmpreis 1995.
Dreissig Jahre hatte er bis zum Tod seiner ersten Frau im Tessin in Bigogno-Breganzona gewohnt. Dann wurde das Haus verkauft. Als er sich 1994 mit der zweiten Frau Luisa ver-mählt hatte, solle er zu ihr gesagt haben, mit ihre fange das Tessin wieder an zu leben. Das Paar hielt sich regelmässig in Locarno auf. Als die beiden 1998 einmal den Friedhof von Ronco sopra Ascona besichtigten, soll Hoffmann zu seiner Frau Luisa gesagt haben: „Hier möchte ich einmal begraben sein.“ Sie hätten damals an einem herrlichen Sonnentag am Grab von Erich Maria Remarque gestanden. Nunmehr ist seinem Wunsch Folge geleistet worden.
Im ehrwürdigen Kirchlein von Ronco war die schlichte Abdankung vorgesehen. Während in der noch menschenleeren Kirche ein Organist, eine Violonistin und eine Sopranistin noch übten, trug Frau Luisa einen Strauss Hortensien, ein Kerze und das Bild des Verstorbenen aus guten Tagen zum Altar und platzierte sie liebevoll. Kurz darauf stellte eine dunkel ge-kleidete Frau die Urne mit der Asche des Verstorbenen gut sichtbar auf. Eine grossge-wachsene Pastorin betrat die Kirche, während der Sigrist „stand by“und für alle Fälle zur Verfügung stand. Eine Viertelstunde vor Beginn liess er das Geläute mit den typisch tessi-nerischen unrhythmischen, zögerlichen Glockenschlägen erklingen. Als die Glocken ver-stummt waren, sprachen die Pastorin und Angehörigen das Prozedere ab. Es läutete erneut, diesmal definitv zum Gottesdienst. Nach dem letzten Glockenschlag schloss der Sigrist mit einem Knallen die Kirchtüre. Kaum ein Dutzend Menschen waren da.
Die Pastorin begrüsste zuerst mit italienischen Dankesworten und erklärte, dass nach der Abdankung die Urnenbeisetzung oben auf dem Friedhof stattfinde. Mit Wärme trug sie Psalm 23 vor: “Ich bin der Herr, Dein Hirte, mir wird nichts mangeln...“ Sie kennen diesen wunderbaren alttestamentlichen Trost. Unterbrochen von Musikbeiträgen trat Frau Luisa Hoffmann sichtlich gerührt mit einem ergreifenden, selbstverfassten Gebet vor die kleine Trauergemeinde. Eine weitere Angehörige trug ein Augustinuszitat vor. Danach ist der Tod nicht das Ende, sondern der Beginn eines neuen Lebens.
Nach dem schlichten Gottesdienst zog das kleine, traurige Züglein der wenigen Angehöri-gen, die gekommen waren, durch das Kirchenschiff zum Ausgang und in der brätigen Hitze gemächlichen Schrittes die Strasse hinauf zum etwa zehn Minuten entfernten Friedhof.
Helles, heisses Sommerwetter, aber von grauem Dunst abgeschwächte Farben gaben die Kulisse hoch über dem Lago Maggiore. Da und dort blieben die Leute stehen und schauten dem vielleicht noch sechsköpfigen Trauerzüglein nach. Im Albergohotel unter gelben Schir-men assen die letzten Gäste ihr Colazione, im Café oberhalb der Strasse plärrte eine Radio Schlagermusik.
Droben auf dem Cemetrio warteten zwei Muratori mit angemachtem Pflaster und griffberei-ter Kelle am offenen Urnengrab, einem schönen Platz auf einem grünen Mätteli, das man beim Betreten des Friedhofs gleich sieht. Das spärliche Züglein von Trauernden baute sich rund um das Grab auf, worauf die Pastorin endgültig zum Abschied sprach. Das „Unser Vater...“ war begleitet vom Gezwitscher ungezählter Vögel im nahen Laubwald. Weisse Schmetterlinge umtanzten das Grab und die Trauernden.
Dann trat der einer der beiden Muratori, kurzbehost, mit tiefblauem Leibchen ohne Ärmel vor und versenkte die Urne, er gab aber zwei-drei Kellen Pflaster auf die Ränder. Frau Luisa und die Angehörigen verabschiedenden sich traurig und in sich versunken. Nun leg-ten die beiden Muratori die gewichtige Granitplatte auf das Grab und wischten den heraus-quellenden Pflaster ab. Die Trauernden verharrten in Ruhe und Ergriffenheit noch ein paar Momente. Auf der Platte steht eingemeisselt: „Kurt Hoffmann, Filmregisseur, 1910-2001. Con Amore.“ Das war’s dann.
„Ich denke oft an Piroschka...“
Wo sind sie geblieben, die Stars und Sterne, die durch den begnadeten Regisseur Förde-rung und Erfolg erfuhren? Tröstlich ist der schöne Gedanke, seine Asche am wunderschö-nen Ort zu wissen. Dennoch: Man mag noch so berühmt und illuster sein, ist man tot, arm oder krank, ist man allein. Kurt Hoffmann ist in München hochbetagt und schwerkrank verstorben am 25. Juni 2001. Bestattet am Freitag, 27. Juli 2001 in Ronco s/Ascona. „Ich denke oft an Piroschka...“
Bis bald! Ihr Pankraz F.
(1) Überarbeitete Fassung meiner Kolumne im "Fridolin", Schwanden, vom 23. August 2001.
Filmographie / Filme von Kurt Hoffmann
· 1939: Paradies der Junggesellen
· 1939: Hurra! Ich bin Papa!
· 1941: Quax, der Bruchpilot
· 1943: Ich vertraue Dir meine Frau an
· 1943: Kohlhiesels Töchter
· 1943: Ich werde dich auf Händen tragen
· 1948: Das verlorene Gesicht
· 1949: Heimliches Rendezvous
· 1950: Fünf unter Verdacht
· 1950: Der Fall Rabanser
· 1950: Taxi-Kitty
· 1951: Fanfaren der Liebe
· 1951: Königin einer Nacht
· 1952: Klettermaxe
· 1952: Liebe im Finanzamt
· 1953: Musik bei Nacht
· 1953: Hokuspokus
· 1953: Moselfahrt aus Liebeskummer
· 1954: Der Raub der Sabinerinnen
· 1954: Das fliegende Klassenzimmer
· 1954: Feuerwerk
· 1955: Drei Männer im Schnee
· 1955: Ich denke oft an Piroschka
· 1956: Heute heiratet mein Mann
· 1956: Salzburger Geschichten
· 1957: Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull
· 1957: Das Wirtshaus im Spessart
· 1958: Wir Wunderkinder
· 1959: Der Engel, der seine Harfe versetzte
· 1959: Das schöne Abenteuer
· 1960: Lampenfieber
· 1960: Das Spukschloß im Spessart
· 1961: Die Ehe des Herrn Mississippi
· 1962: Schneewittchen und die sieben Gaukler
· 1963: Liebe will gelernt sein
· 1963: Schloß Gripsholm (auch Produzent)
· 1964: Das Haus in der Karpfengasse
· 1964: Dr. med. Hiob Prätorius
· 1965: Hokuspokus oder: Wie lasse ich meinen Mann verschwinden…?
· 1966: Liselotte von der Pfalz
· 1967: Herrliche Zeiten im Spessart
· 1967: Rheinsberg
· 1968: Morgens um sieben ist die Welt noch in Ordnung
· 1969: Ein Tag ist schöner als der andere
· 1971: Der Kapitän
· F
191939: Paradies der Junggesellen
· 1939: Hurra! Ich bin Papa!
· 1941: Quax, der Bruchpilot
· 1943: Ich vertraue Dir meine Frau an
· 1943: Kohlhiesels Töchter
· 1943: Ich werde dich auf Händen tragen
· 1948: Das verlorene Gesicht
· 1949: Heimliches Rendezvous
· 1950: Fünf unter Verdacht
· 1950: Der Fall Rabanser
· 1950: Taxi-Kitty
· 1951: Fanfaren der Liebe
· 1951: Königin einer Nacht
· 1952: Klettermaxe
· 1952: Liebe im Finanzamt
· 1953: Musik bei Nacht
· 1953: Hokuspokus
· 1953: Moselfahrt aus Liebeskummer
· 1954: Der Raub der Sabinerinnen
· 1954: Das fliegende Klassenzimmer
· 1954: Feuerwerk
· 1955: Drei Männer im Schnee
· 1955: Ich denke oft an Piroschka
· 1956: Heute heiratet mein Mann
· 1956: Salzburger Geschichten
· 1957: Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull
· 1957: Das Wirtshaus im Spessart
· 1958: Wir Wunderkinder
· 1959: Der Engel, der seine Harfe versetzte
· 1959: Das schöne Abenteuer
· 1960: Lampenfieber
· 1960: Das Spukschloß im Spessart
· 1961: Die Ehe des Herrn Mississippi
· 1962: Schneewittchen und die sieben Gaukler
· 1963: Liebe will gelernt sein
· 1963: Schloß Gripsholm (auch Produzent)
· 1964: Das Haus in der Karpfengasse
· 1964: Dr. med. Hiob Prätorius
· 1965: Hokuspokus oder: Wie lasse ich meinen Mann verschwinden…?
· 1966: Liselotte von der Pfalz
· 1967: Herrliche Zeiten im Spessart
· 1967: Rheinsberg
· 1968: Morgens um sieben ist die Welt noch in Ordnung
· 1969: Ein Tag ist schöner als der andere
· 1971: Der Kapitän
Filme aus dem grossen Repertoire von Kurt Hoffmann
Quelle: https://www.google.ch/?ion=1&espv=2#q=Kurt+Hoffmann+Regisseur
Lappi, tuä d Augä-n-uuf!!!
oder
Bei Signora Corsettini im falschen Hotelzimmer (1)
In grossen Hotelkästen gibt es mehrere Treppenaufgänge, die sich auf’s Haar ähnlich se-hen. Solches trifft im wohlsituierten Hotel Muralto (2) in Locarno zu, wo vor etwa sechs Jahren ein einwöchiges Seminar stattfand, an dem ich teilnehmen konnte. Ich logierte gleich an der Ecke eines Treppenaufgangs in einem Einzelzimmer mit wunderbarer Sicht auf den Lago Maggiore. Die Nähe der Treppe und die Kongruenz der Hotelgänge und Türen wurde mir zu einem dramatischen Verhängnis.
Vernehmen Sie also die hochpeinliche Geschichte, damit ich sie - wenn auch als unbewäl-tigte Vergangenheit - ad acta legen kann. Irgendwie und glücklicherweise unbewältigt, weil die in die Angelegenheit mitverwickelte Person eine bedeutende politische Persönlichkeit weiblichen Geschlechts war, die einer renommierten höheren Behörde angehörte. Zum Schutz dieser Person darf zu deren Beschreibung nichts weiteres hinzugefügt werden.
Wohl gut 60 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus allen Teilen der Schweiz, von denen sich nur wenige kannten, waren dabei. Damit man sich besser kennen lernen sollte, ass man gemeinsam. Aber man war verteilt an runden Tischen zu sechs-sieben Personen, die zwar wohl immer wieder wechselten. Viele blieben dennoch unbekannt; so erging es mir auch mit besagter Dame.
In der Regel nahm ich die Treppe, nicht den Lift, um mich nach dem Essen kurz auf das Hotelzimmer zu begeben. Diese Treppe befand sich unmittelbar am Ausgang des sehr schönen Esssaals. Ausnahmsweise blieb ich heute noch etwas länger und trank mit meiner Tischrunde auf der Balkon-Terrasse einen Espresso. Durch diese Verzögerung war ich etwas in Eile und hüpfte, immer zwei Tritte nehmend, die Treppe hinauf. Aber in der Hatz war mir entgangen, dass ich nicht die übliche Treppe vom Speisesaal, sondern die nächstfolgende genommen hatte.
Im Laufschritt näherte ich mich meinem vermeintlichen Hotelzimmer, dessen Nummer ich im halbdunkeln Gang gar nicht mehr beachtete, weil ich ja bereits auf diese Tür bei der Treppe konditioniert war. Etwas verblüfft stellte ich fest, dass der Zimmerschlüssel zwar wohl passte, sich aber nicht drehen liess. Ein Druck auf die Klinke und das Nachgeben der Türe erklärten mir, ich hätte wohl vor dem Mittagessen versehentlich nicht abgeschlossen. Damit wäre die Angelegenheit erledigt gewesen.
Aber ohä lätz! Ich stand da ja im falschen Zimmer. Justament auf dem niedrigen Tischchen stand da eine Damentasche. Seltsam. Die war vor dem Essen noch nicht da. Das Zimmer stimmte auf den ersten Blick, aber die Tasche irritierte. Das Personal, stellte bei seiner Zim-mertour doch keine Taschen auf den Tisch. Zum Teufel, woher kommt diese Tasche ?
Rechterhand des Eingangs war eine mit einer Klapptür versehene Nasszelle, ein Bade-zimmer mit schwarzen Kacheln und die Toilette. Nach der in Sekundenbruchteilen, aber immer noch unter dem Druck der Eile stattfinden Begegnung mit der Tasche, strebte ich ins Badezimmer zum obligaten Zähneputzen. Doch als ich die Türe aufstiess, schrie eine zu Tode erschrockene Frauensperson auf wie bei Hitchkocks „Psycho I“ und war im Begriffe, sich das Korsett hochzuziehen. Reflexartig hatte sie mir - als ob Frauen von hinten schö-ner wären als von vorn - den Rücken zugekehrt und steckte halbbatzig in der figurformen-den Zwangsjacke.
Wie eine Erstaugustrakete ging in mir die Erkenntnis los: Ich bin im falschen Appartement! Reflexartig, aber nicht in der Lage zu sprechen, ergriff ich blitzartig die Flucht, während die halbbekleidete, etwas füllige Dame im Korsett tobte und sackerte, ich solle sofort ver-schwinden, sie rufe die Polizei oder so ähnlich. In meinem Schrecken war ich flugs im Gang, übergossen wie die Pechmarie mit Peinlichkeit und so verwirrt, dass ich absolut un-fähig war, meine Gedanken zu ordnen und vernünftig zu reagieren. Angst und Aggression sollen Schwestern sein. Zum allem Überdruss wurde ich nämlich noch wütend, klappte die Tür nochmals auf und entlud meinen ganzen Schrecken: „Wesoo händ Si äigetli nüd gschlossä, Si Baabä!?“, knallte die Tür wieder zu und hörte noch wie sich von innen der Schlüssel drehte.
Immer noch ein wenig unter Schock suchte und fand ich mein Zimmer und überlegte, was aus dieser peinlichen Situation zu machen sei. Ich hatte das dringende Bedürfnis, mich für meine Ungeschicklichkeit bei der Dame zu entschuldigen. Doch, so erwog ich auch, würde diese Vergebenstour für sie möglicherweise noch peinlicher sein als der Vorfall selber, weil ich ja aus der Sechzigschaft der Kurses wohl der einzige war, der sie im durch ihr Korsett etwas verdeckten Evakostüm gesehen hatte. Nach Abwägung und Erwahrung der ver-schiedenen Möglichkeiten beschloss ich, inkognito zu bleiben. Hingegen tüftelte ich mit Hilfe der Teilnehmerliste ihren Namen heraus und mit nochmaligen Anschleichen ihres Zim-mers die Zimmernummer. Mit diesen Informationen versehen holte ich mir in der renom-miertesten Pâtisserie am Platze ein kleine Süssigkeit, liess sie mit Mäschelchen verpacken, steckte ein neutrales, kleines Kärtchen dazu und schrieb mit verstellter Schrift: „O, I’m so sorry!“ darauf. Dann studierte ich längere Zeit an der Reception im Fremdenverkehrspro-spekt und stellte der Portière belanglose Fragen über Freizeitmöglichkeiten, und zwar so-lange, bis ich das Fach mit der Zimmer meiner so unglücklich erschreckten „Madame Corsettini“ entdeckt hatte. Dann lungerte ich noch in der wegen des Lifttrakts nicht sehr übersichtlichen Hotelhalle herum und hatte Glück. Die Portière ging tatsächlich bald in einen Nebenraum und liess das Türchen der sie abschirmenden Theke offen. Den Rest wissen sie. Mit 150 Puls - ich kam mir vor wie ein Gangster beim ersten Banküberfall - legte ich mein Päckchen in ihr Schlüsselfach und ergriff mit Hammerschlägen in den Adern die Flucht...
Wahrscheinlich für ewige Zeit wird unbekannt bleiben, wie besagte Dame dieses Päckchen verkraftet hat. Vermutlich hatte ich die richtige Variante gewählt; denn sie hat - soviel ich weiss - die Äffäre mit dem unerwarteten Eindringling mit strengstem Stillschweigen über-gangen, jedenfalls habe ich weder von der Polizei, noch von der Hotelleitung, noch von der Kursleitung, noch von ihr selber auch nur das leiseste gehört.
Im Gegenteil - am Ende des Kurses, ehe man sich auf die Heimreise machte, verabschie-deten sich beim Schluss-Apéro alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer in bester Laune und mit fröhlichem Lärm. Ich konnte nicht umhin, auch meiner „Madame Corsettini“ sehr herz-lich die Hand zu drücken, sie mit Rang und Namen anzusprechen und ihr alles Gute zu wünschen, was diese nicht minder freundlich erwiderte. Die Geschichte ist aber noch nicht zu Ende.
Etwa zwei Jahre später besichtigte ich auf einer Exkursion ein bekanntes Kloster im Mittel-land, das insbesondere wegen seines Chorgestühls europäischen Ruhm besitzt. Nach er-baulicher Besichtigung des Kloster und auch der Puttenengel, kreuzten wir eine ankom-mende Reisegruppe aufgestellter Damen. An der Spitze kam meine,oho, „Madame Corset-tini“. Ich ging auf sie zu und begrüsste sie auf herzlichste und erinnerte sie an unseren ge-meinsamen, hochinteressanten Kursus in Locarno. Ihr argloses Mienenspiel verriet mir, dass ich immer noch der einzige war, der wusste, wer damals in ihr Hotelzimmer im „Mur-alto“ eingedrungen war, weil sie vergessen hatte, abzuschliessen.
Beim Weggehen schaute ich noch einmal zurück und dachte: „Sie trägt es noch!“
Bis bald! Ihr Pankraz F.
(1) Überarbeitete Fassung meiner Kolumne im "Fridolin", Schwanden vom 3. September 1998.
(2) Das Hotel Muralto ist mittlerweile funktionell und baulich massiv umgestaltet worden. Das ähnlich lautende Hotel Garni Muralo befindet sich nicht mehr am selben Standort.
Bildnachweis:
Oben: www.fashn.de/Damenmode/Unterwaesche/Unterwaesche-von-stay/Farben-Rot
Unten: www.korsett-atelier-kassel.de/hweis:
Ähnlichkeiten oder Übereinstimmungen mit lebenen Personen sind rein zufällig, nicht beabsichtigt und aus der Luft gegriffen.
Zudem stimmen die im Obigen erwähnten Ausmasse in keinster Weise mit dem nebenstehenden Bild überein.
Es handelt sich lediglich um ein ausgewähltes Beispiel aus einer Internet-Etalage, die zu Verkaufszwecken diente.
Falls Sie jemanden von hinten erkennen sollten, sind Sie mit an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit auf dem Holzweg.
Ratte und Milan: Stirbt die Ratte im See, kreist der Milan, als Seepolizei und "Aufräumer".
Bilder:
Ratte: http://traum-deutung.de/ratte/
Milan: http://www.fotocommunity.de/photo/rotmilan-frisst-im-flug-sladdi/18624429
Die Ratte von Locarno - Il ratto di locarno (1)
Um 16:10 Uhr sollte das Schiff von Locarno Richtung Magadino abheben. Drückende Hitze liegt auf der hochsommerlichen Stadt am Lago Maggiore. Die meist kurzbehosten und lustig behüteten, teils braungebrannten, schwitzenden Touristen hängen wie Trauben an ein Einstiegsstellen und harren auf ihr Schiff. Babylonisches Sprachengewirr, quengelnde Kin-der, da ein Spitzbübchen mit mächtiger Wasserspritzpistole, da ein Mädchen, das mit seiner Puppe umgeht wie mit einem richtigen Säugling, recht viele betagte Menschen, die das herrliche Wetter hierher gelockt hat, eine Gruppe behinderter Kinder, die irgendwo im Tessin ihre Ferien verbringen und heute eine Schiffsausflug machen. Sonnenbrillen, Sonnebrillen, Sonnebrillen...
Dennoch scheint das Gedränge weniger dicht zu sein als andere Jahre. Es ist offenbar spürbar, dass Auslandferienarrangements immer billiger werden, bzw. Schweizer Ferien teuer erscheinen lassen. Vielleicht ist der Andrang auch etwas spärlicher, weil mit GA und Halbtaxabonnements auf dem Langensee gar nichts zu machen ist.
Ohne Hatz öffnet ein Beamteter der Navigazione di Lago Maggiore in der dunkelblauen Hose, dem hellblauen Marinehemd und der blauen Mütze die kleine Kette und lässt das Volk, das wie eine Herde vor der Tränke geduldig wartet, aufs Schiff. Mit einem kräftigen Schwung schiebt er die verschiebbare Einstiegsbrücke mit dem Eisengeländer von der Reeling aufs Schiff. Der Weg ist frei aufs Schiff.
Ich erwische just am Bug einen Sitzplatz und habe linkerhand Sicht direkt ins Wasser. Im Schatten einer Platane wirkt das Wasser dunkelgrün, fast schwarz. Es riecht nach See, aber auch nach Kanalisation. Auf der Strasse ist ein Filmteam damit beschäftigt „Spots“ aufzunehmen. Zu diesem Zweck ertönt schlagartig ein Lautsprecher mit asiatischer Musik und mitten auf der Strasse - auf einer Verkehrsinsel tanzt eine junge Frau in bunter Kleidung in wilden Verrenkungen. Das Kamerateam, drei dunkelhäutige Leute verfolgen die Szene und holen die Sequenz in den Kasten. Sofort bildet sich ein Volksauflauf von Zu-schauern, die einen gaffen und glotzen, andere klatschen im Rhythmus der Musik mit und lachen, dritte zücken ihre Fotokamera und schiessen - blitz! blitz! blitz! - Schnappschüsse fürs Familien- oder Ferienalbum.
Eine Steintreppe führt vom Trottoir ins Wasser. Ein nicht mehr ganz junger Lover führt seine Braut die Treppe herunter. Sie wartet dort auf dem Absatz, während er sich weiter vorwagt und die Hände ins Wasser streckt, die Finger tunkt und sich die Stirne kühlt. Doch schwapp schlägt unerwartet eine Welle gegen das Ufer und erwischt in kalt. Bis zu den Waden ist er durchnässt und hüpft mit seinen Michel-Jordi-Schühlein wohl einen halben Meter hoch, als ob ihn die Piranhas verfolgen wollten. Seine Braut lacht herzhaft heraus, während er sein Gesicht schmerzlich verzieht und das nicht lustig findet.
Doch noch während das Paar mit dem unerwarteten Wellengang beschäftigt ist, sehe ich im dunklen Wasser umgeben von Wasserblasen etwas auf der Wasseroberfläche schwim-men. Das Wasser gegen das Ufer ist noch durchwirkt von Holzzeug und Blättern, die vom Sturm der vorigen Tage herrühren. Aber da wippt etwas auf und ab. Etwas, wie ein dunkles, winziges, längliches kleines Kissen.
Ich beginne hinzustarren. Ein Stück Holz? He, was ist das? Ich frage den Passagier neben mir. Gemeinsam starren wir ins dunkle Wasser, wo dieses dunkle Ding auf und niederwiegt.
Eine Ratz!!! He, das ist eine Ratz! Wäääää! Etwas wie eine kleine Ekelpanik kommt auf dem Vordereck auf. Immer mehr Leute starren mit entgeisterten Mienen in das dunkle Was-ser, wo dieses aufgeblähte Ding wie ein Fallspringer mit ausgebreiteten Extremitäten steigt und sinkt und steigt und sinkt und steigt und sinkt, den Kopf nach unten hängend. Das Tier muss schon ein paar Tage im Wasser gelegen haben, die vier Beine mit den Ratzenpfoten sind schneeweiss. Ebenso der Schwanz. Auf dem Rücken hat sich eine weisse Stelle ge-bildet. Offenbar sind dem Rattentier die Haare fleckig ausgegangen. Es ist nicht schön, die tote Kreatur ansehen zu müssen.
Viele Menschen mögen Ratten nicht. Diese führen eine zwielichtiges Leben in der Unter-welt. In den stinkenden Kanalisationen. Ob sie dort Abfälle fressen? Kanalisationen sind die Unter-Welt, wo sich aller Unflat und Unrat, die Menschen hinterlassen, sammeln. Vielleicht haben die schweren Unwetter und grossen Wassermengen der letzten Tage die Kanalisati-onen überschwemmt. Ob eine Ratz ersaufen kann?
Es gibt auch liebe Ratten. Unter den Arkaden bei der Piazza Grande trug vorhin eine halb-wüchsige Frau eine Ratte unter dem Pullover. Die weisse Ratte streckte den Kopf zum Aus-schnitt heraus und hörte sich die liebevollen Zusprüche ihrer Rattennärrin an. Würden Sie einer Ratte unter ihrem Hemd Platz bieten? Offenbar ist alles nur eine Sache der Einstel-lung und Gewöhnung.
Kein Tier ist a priori hässlich. Es ist die menschliche Vorstellung oder besser die mensch-liche Wertung, die Unterschiede zwischen hässlich und schön angenehm oder eklig ma-chen.
Nur - die Leute um mich herum sind einer Meinung. Niemand lacht. Alle machen skeptische oder sogar angewiderte Gesichter. Einige schauen gar weg. Und doch wieder hin. Dort schwappt die tote Ratte auf und ab, geräuschlos und mausetot.
Ein paar hundert Meter weiter sind ungezählte Ratten im Wasser - Wasserratten. Krei-schende und fröhliche Menschen, die sich am sommerlichen Nass erfreuen.
Das Schiff strebt in die Seemitte hinaus. Die Ratte ist vergessen. Hoch oben kreuzt ein Raubvogel... ein Milan? Ich kann es nicht erkennen; aber der scheint ein Raubvogel zu sein. Vielleicht wird er zum rechten sehen und als Wasserpolizist die Ratte entfernen. Wer weiss?
Die Ratte von Locarno - im Schatten der Platane. Sinnbild alles Vergänglichen. Drüben im Café Rotonodo schnabulieren die Leute Eis, schlürfen ihren Espresso und erfreuen sich des herrlichen Tages. Dort tanzt immer wieder die junge Frau für die Filmaufnahmen. Der blaue Himmel wölbt sich über den Lago Maggiore und die stampfenden Motoren unseres Schiffes lassen die arme Ratte vergessen, die auf und ab wippt, bis der Milan kommt oder die Natur ihren Verwesungsprozess fortsetzt...
Bis bald! Ihr Pankraz F.
(1) Überarbeitete Fassung meine Kolumne im "Fridolin", Schwanden vom 2. August 2001.
Schiffanlegestelle in Locarno
Bild: http://www.artplattform.com/bild-16980-21725.html
oder
Dort, wo der Teufel hundert Felder anlegte ...
Sie heissen «Centocampi» (100 Felder). Viele Tessiner starren einen verständnislos an undzucken die Schultern, wenn man danach fragt. Sie
befinden sich hoch auf dem ge-waltigen Buckel des Gambarogno, wie eine Mäiensäss, abseits der Welt, hart an der Grenze Italiens und der Schweiz.
Bis vor kurzer Zeit musste man bis auf die Siegfriedkarte der Vierzigerjahre des letzten Jahrhunderts zurückgreifen, um die «Centocampi» topografisch überhaupt zu finden. Heute sind die «Centocampi» durch den Ente turistico del Gambarogno (Verkehrsverein) wieder im Gespräch. 1997 liess dieser wenigstens zwei der einst zahlreichen Strohdachhäuser wieder errichten, nachdem mit dem Wegzug der Kleinbauern «Centocampi» praktisch aus-gestorben war und die dortige Strohhaussiedlung zerfiel. Die «Centocampi» liegen in der westlichsten Schweizer Gemeinde des Gambarogno Caviano, zu dem politisch auch der Zollposten Dirinella unten am Seeufer des Lago Maggiore und hoch am Hang, ein paar Gehminuten von Cavaiano entfernt, auch der Weiler Scaiano gehören. Von dort sind die «Centocampi» zu Fuss in etwa einer Stunde schweisstreibenden Aufstiegs zu erreichen.
Was heute kaum noch jemand glauben will, die «Centocampi» waren Felder, auf denen in dieser Höhe Roggen angepflanzt wurde. Das Stroh wurde
zum Dachdecken benutzt. Doch davon später.
Nach einer alten Tessiner Sage sind die «Centocampi» dem Teufel zu verdanken. Zwar wusste niemand mehr über diese Episode Bescheid, die
erklärte, warum auf dieser unweg-samen Höhe von etwa 700 Metern, nahezu 500 Meter über dem Seespiegel des Lago Maggiore – in einer Lichtung mitten im Wald –, Felder bepflanzt wurden. Aber in
Johny Riegers «Ein Balkon über dem Lago Maggiore» ist sie überliefert: «... der Teufel soll die Felder in einer einzigen Nacht auf den kahlen Felsen hinaufgeschafft haben, aufgrund einer Wette
mit dem Glöckner der Kirche unten am Seeufer. Der Glöckner gewann die Wette, indem er den Teufel narrte.» Wie er den Teufel übers Ohr gehauen hat, war nicht mehr zu eruieren. Immerhin zeigt diese
Geschichte, dass sich auch ein frommer Mann nicht unge-straft mit dem Teufel in durchtriebene Wetten einlassen und seine Seele verpfänden kann, auch dann nicht, wenn er den armen Bergbauern auf
ihrem nackten Felsen zu fruchtbarer Erde verhelfen will. Der Glöckner hatte zwar den Teufel ausgetrixt, musste das aber mit der schlimmsten Strafe ausbaden, die einem Menschen widerfahren kann:
Sein Name ist für alle Ewigkeit vergessen!
Teufel hin, Glöckner her – Tatsache sind die «Centocampi», terrassenartig abgestuftes Wiesland, auf dem früher Roggen wuchs. Eben da haben
findige Einheimische Häuser mit Strohdächern gebaut.
Die Häuser waren nach folgendem Muster errichtet worden: Zunächst wurden Steine zu einer mindestens 50 Zentimeter dicken Trockenmauer
aufgeschichtet. Darauf wurde ein steiles, aber leichtes Holztragwerk aufgesetzt, das in spitzem Winkel von 60 Grad zum Himmel ragte. Da die Bedachung aus Stroh bestand, konnte dieser Dachstock
leicht sein und hatte lediglich etwa 6 kg/m2 zu tragen (im Gegensatz zu Tessiner Steindächern, die rund 400 bis 500 kg/m2 wiegen). Das Sparrendach bestand aus zwei Flächen. Die ein-zelnen
Sparren wurden nur mit Holznägeln zusammengehalten. Nachher wurden die Rog-gengarben-Bündel mit Birken-, Ginster- oder Ebereschenruten befestigt. Zuletzt wurde der Firstbalken aufgesetzt, weitere
Roggenstrohbüschel darübergelegt und mit Hasel- oder Kastanienruten fixiert. An den Firstenden baumelte je eine weitere Strohgarbe. Der untere, gemauerte Teil des Hauses diente als Viehstall,
darüber war der Heuboden. Die Südfront mit einem «Törli» zum Heuboden war mit Brettern abgeschirmt, die aber Spälte als Luft-löcher offen liessen. Auf der Nordseite gegen den See war hingegen
dichtes Rutenflecht-werk angebracht. Die steilen Firste hatten den Vorteil, dass das Wasser schnell abfloss und im Winter der Schnee abrutschte. Ein Strohdach liess sich auch leicht ausbessern,
was jährlich geschehen musste, da Stroh der Fäulnis ausgesetzt war.
Solche Strohhäuser waren auf den «Centocampi» die Regel, auch in Caviano, Scaiano und in vielen landwirtschaftlich besiedelten Dörfern des
Gambarogno bis hinauf nach S. Antoni-no, Giubiasco und sogar bis ins Leventinatal. Eine Geschichte für sich waren die Feuers-brünste, weil solche Häuser sehr leicht Feuer fingen und
niederbrannten. In den Sechziger-jahren des letzten Jahrhunderts schrieb Giovanni Bianconi, der sich eingehend mit dem Tessiner Hausbau auseinandergesetzt hatte: «... eines nach dem andern
zerfallen sie, teilen das Schicksal derjenigen, die vor 50 oder 60 Jahren noch zahlreich im Gambarogno zu finden waren ...», also bereits damals Erinnerungen. Ein Besitzer überliess in dieser
Situation sein zerfallendes Strohhaus dem Ente Turistico del Gambarogno mit der Auflage, das Haus in seiner Ursprünglichkeit zu bewahren. Nach einem Hickhack über zwei Jahr-zehnte wurde das
Projekt Wirklichkeit.
Unter Leitung von Nicola Nussbaum aus San Nazarro wurden zwei der verschwundenen Strohhäuser wieder erstellt. Das Kastanien- und Birkenholz
stammte aus dem nahen Wald, zum Fixieren wurden wie einst Holznägel und Ruten verwendet. Nach Anleitung eines be-tagten Einheimischen wurden die Strohdächer «gedeckt». Das Roggenstroh musste weit
hergeholt werden, aus Thusis GR.
So sind die Dächer von «Centocampi» die letzten und einzigen Zeugen dieses besonderen Handwerks im ganzen Kanton Tessin und erfreuen den
staunenden Besucher, wenn er sich bewusst auf den steilen, beschwerlichen, teilweise verwilderten Weg gemacht oder als Wunderfitz in diese Gegend verirrt hat.
Die Roggenfelder sind verschwunden, die den Tessiner Bergbauern Brot zum Essen und Stroh für ein Dach über dem Kopf spendeten. Sie selbst
sind weggezogen oder in andere Berufe abgewandert. Der listige Glöckner ist vergessen, und der übertölpelte Teufel hat sein Betätigungsfeld längst auf andere Bereiche verlegt. Der
EnteTuristico del Gambarogno hat ein Stück Vergangenheit der Nachwelt erhalten. Er lüftet ein Geheimnis des einst ge-schmähten Landstrichs Gambarogno.
Charakterisiert werden die Gambarognesen in ihrem eigenen Dialekt, den angeblich nur sie selbst und die Berggeissen verstehen: «Gambarögn de
la sfortuna, / d’inverno senza soo,/ e d’estaa senza lüna.» Dies heisst für den Rest der Menschheit und die übrige Tierwelt: «Gambarogno, dir gehts schlimm. / Winters siehst du keine Sonne / und
im Sommer keinen Mond.» Das war mal so. Heute ist der Gambarogno begehrte Erholungsregion und wahrt noch viele Geheimnisse. Häppchenweise gibt er sie preis ... wie die Strohhäuser der
«Centocampi». Bien dü! Ihr Pancrazio F.
(1) Überarbeitete Fassung der Kolumne im "Fridolin", Schwanden, Nr. 29 vom 17. Juli 2008. Frontpage.
Bilder:
http://www.ticino.ch/de/itineraries/details/H%C3%B6henwanderung-in-den-Bergen-des-Gambarogno/138457.html
http://www.ascona-locarno.com/de/farmhouses/details/Agriturismo-Keller-Cento-Campi/100670.html
http://www.ticino.ch/de/commons/details/Die-Strohd-auml-cher-von-Centocampi/4568.html
http://www.wanderland.ch/de/services/sehenswuerdigkeiten/sehenswuerdigkeit-0517.html
Titelseite
Helmuth Seitz:
Nur Gescheite können blödeln,
Turmschreiberverlag,
D-49124 Georgsmarienhütte
ISBN-13: 9783930156726
Frohe Grüsse aus den Ferien... im Tessin oder anderswo
oder
Kartengrüsse aus aller Welt (1)
Es scheint zwar, die Kartengrüsse aus den Ferien seien etwas aus der Mode gekommen. Zu sehr sind die Menschen mit sich selber beschäftigt. Sie haben ja auch andere Kommuni-kationsmöglichkeiten mit Handy, SMS oder den elektronischen Postkarten im Internet.
Trotzdem scheint das Ansichtskartengeschäft zu florieren. Kioske, Buchläden, Warenhäu-ser, Schalter in den Hotellobbies haben immer (noch)und wieder alte und neue Ansichts-
karten in ihrem Sortiment, von den sogenannten Sehenswürdigkeiten nicht zu reden!
Im Sinne einer „Fridolin“-Gratisdienstleistung biete ich Ihnen für Ihre Ferienreise eine An-zahl Grüsse in Reimform an, die Sie zeitsparend verwenden können. Die meisten von Ihnen sind zwar aus den Ferien zurück. Aber die nächsten Ferien kommen bestimmt... Besonders eifrige Kartenschreiber können sie fotokopieren und einfach aufkleben. Ich bitte Sie um Verständnis, dass mein Service nicht so weit entwickelt ist, dass Sie die „Ferien-grüsse“ perforiert und auf selbstklebendem Papier erhalten. Immerhin, ein Anfang ist gemacht.
Zuerst eine paar Vorschläge für Affichen abwesender Geschäfte: „Wir schliessen unsern Metzgerladen / zwecks Ferien in Berchtesgaden.“ - „Wir fliegen nach Amerika und sind im Augschten wieder da!“ - „Wir fahren in die Mandschurei, drum schliessen wir die Bäckerei.“ - „Wir reisen durch die ganze Schweiz, geschlossen bleibt drum unsre Beiz.“ - „Wir gehn jetzt in die Flitterwochen und hoffen, ‘s wird nicht eingebrochen!“ - „Dass wir nicht hier sind, tut uns leid; wir sind derzeit im Badekleid.“ - „ Wir machen hier auf Eure Kosten ein wenig Ferien im Fernen Osten.“ ...
Doch nun folgen wahllos Feriengrüsse aus aller Welt: „Abseits der Sünder und der Schel-men geniessen wir die Welt in Elmen.“ - „Abseits von Arbeitsplatz und Schwanden, vergnü-gen wir uns auf dem Randen.“ - „Braunwald ist unser Ferienziel. Da lebt man gut und freut sich viel.“ - „Uhni dr Gläärnsich und uhni dr Töödi, wär’s doch im Glaarnland än eeländi blöödi.“ - „Ich sage Euch, in Istambul, ist das Leben wirklich cool!“ - „In Peking waren wir gewesen: Da wimmelt’s nur so von Chinesen!“ - „Auf unsrer Schifffahrt auf dem Nil, da sah’n wir manches Krokodil. Doch schwammen da noch ganze Herden von kräftigen und dicken Pferden: die sogenannten Nilpferde.“ - „Der Anblick schöner, stolzer Leuen, tat uns in Kenia sehr erfreuen. Doch kamen dann die Elefanten, worauf wir aber alle rannten....“ - „Etz simmer afed bi Friaul, dr Sepp und ds Diidi zantem Paul.“ - “Bim Bäärägrabä wagger Fuäter / gänd ä-dä Bäärä iich und pMuäter!“ - “Auch wenn der Regen reichlich fliesst, man schläft sich aus und man geniesst.“ - „Am Sonnenstrand, am azurblauen/ sieht man viel Volk und schöne Frauen. / Doch hält sich das für uns in Grenzen/ infolge Sonnenbrand und Ränzen.“ - „ In Jesolo und Bibione / gehn viele Frauen oben ohne. Doch haben uns von diesen allen / nicht alle wirklich gut gefallen.“ - „Die liebsten Grüsse aus Sargans, schickt Euch der liebe Onkel Hans.“ - „Schö wu salüü, mong trä schär This, dü Mulängruuschö dö Pariis.“ - „Wir stehen hier direkt in Rom / und grüssen Euch vom Petersdom. / Und weil das Ganze einfach schön isch, / spricht man hier gerne italienisch.“ - „Der Himmel über uns ist blau./ Wir stehen hier im Gotthardstau./ Doch hier auf unserm Hintersitze/ entsteht ‘ne grauenvolle Hitze.“ - “Beim strengen Aufstieg zum Pilatus/ entging dem Vater mancher Flatus.“ - „Für diesmal kommet unser Gruss / vom Welschen her, vom Jurafuss.“ - „Hier in der schönen Stadt St. Gallen /hat uns die OLMA-Bratwurst sehr gefallen.“ - „Vom Vorort ausserhalb Schaffhausen / kam uns beim Rheinfall grad das Grausen.“ - „Wir machen eine Velotour / von Elm nach Glarus über Chur/ und taten alsdann sehr ermüden/ beim steilen Passe in den Süden./ Doch kurz vor dem Luganersee/ tat unser Hinterteil sehr weh.“ -
„Die Kreuzfahrt auf dem Mittelmeer/ war leider manchmal etwas schwer. / Das mediterrane schöne Essen/ kannst du bisweilen glatt vergessen./ So ist es halt im wahren Leben: / Gar manches muss man widergeben.“ - „Für einmal waren wir in Lungern, / um eine Woche lang zu hungern./ Nun hab’ die Fastenkur ich satt, / weil’s keine Gnagis gibt und hat.“ – „Bald kehren wir zurück aus Wohlen / die Zeit ist rum, weg sind die Kohlen." - „Es ist zwar schön in der Türkei, mä gaht dä gliich gag-gäärä häi!“ - „Wohin das nächste Jahr es uns dann zieht, hängt von der Bank ab und vom Kleinkredit.“
Was immer, so oder so - schöne Ferien! (Für die, die sie noch vor sich haben!)
Bis bald! Ihr Pankraz F.
(1) Überarbeitete Fassung meiner Kolumne im "Fridolin", Schwanden vom 16. August 2001, entstanden im Tessin.
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...und die Fortsetzung....eine Woche später
Kartengrüsse... und keine Ende!
oder
Witt ä Briäf, so schriib äinä! (2)
Manchmal reagieren die Leser und Leserinnen ganz unerwartet. Die kürzliche Glosse
„Frohe Grüsse aus den Ferien“ oder „Kartengrüsse aus aller Welt“ zeigte unerwartetes Echo. Offensichtlich hat sich mancher den „Puggel voll glachet“, wie einer sagte. Echte Anhänglichkeit zeigte eine Feriengast, der aus dem sonnigen Süden eine Grusskarte ohne Porto schickte. Die Post hat sie trotzdem prompt zugestellt mit der üblichen Bitte, den fehlenden Markenbetrag am Postschalter einzuzahlen. Danke vielmals dem Kartenschrei-ber, der hoffentlich keinen Sonnenbrand eingefangen hat. So sei die Kartensprüche-Galerie hiermit erweitert.
Kommen Sie mit auf die Weltreise. „In Rio ab dem Zuckerhut, sieht man auf Rio schampar gut!“ – „Ich schlendre an der Cop’cabana/ und wasch’ die Shorts nur mit Wollana.“ – „Mein Knie, das sönnelt am Pizol, / behandelt nur von Perskindol.“ – „Wir sind nun hier, direkt in Lima/ und was wir sehn ist einfach prima!“ – „Die Tante Frieda hat in Brüssel/ von früh bis spät ä tummä Rüssel!“ – „In Amsterdam hat’s viele Grachten, und auf dem Lande schöne Trachten, nur sieht man kaum die schönen Stulpen, von wegen diesen vielen Tulpen!“ – „Am Strand verrät gar mancher Bube, sehr bald halt seine Kinderstube. Man möge es mir nicht verübeln: Ich hasse einfach Nasengrübeln.“ – „Man glaubt es nicht, genau in Denver, / traf ich 'nen regelrechten Genfer. Er sprach akzentfrei: Hee, Mann, ich bin von Genf am Léman.“ – „Die Fischerin vom Bodensee hat Augen wie ein scheues Reh, doch sie gefiel in Romanshorn/ uns hinten nicht und auch nicht vorn.“ – „Seit dem Besuch im EffKaaKaa, weiss man, diä händ dett gaar nüüt aa. Da lacht man sich doch fast kaputt; die sind dort wirklich alle blutt.“ - „Hou, auf der schönen Bluemlisalp, verlor der Onkel Max den Skalp; ein Windstoss brauste wild daher, das Toupet fand er nimmermehr.“ – "Hoch grüssen wir vom Bürgenstock. Vom Lift ist mir noch nicht ganz bock." - "In Gruyère kann man hinter Nelken, die Horengeissen gratis melken! Dann macht man auf der Maiensässe, den wohl-bekannten Ziegenkäse.“ – „Ich mag doch gerne alle Griechen; nur jene mag ich kaum noch riechen, die halt mit dicken, schönen Pelzen, die Herzen unsrer Frauen schmelzen. Doch wenn sie dieses wirklich täten, dann nicht nur bei Regierungsräten.“ - „In Moskau bei den Donkosaken, liess man sich von Gesängen packen. Dort sangen sie im Männerchor ganz schaurig schöne Lieder vor." - "Doch später in Jerusalem, bekamen wir halt ein Problem,
denn unweit von der KIagemauer, pfiff einer einen Gassenhauer!" - "Auffällig waren dann in Spanien, an heissen Tagen die Geranien. Sie war'n zu wenig oft getränkt und deshalb lampend sehr gekränkt." - "Und in Paris ist es beim Sturm, gefährlich auf dem Eiffelturm." -
"Dagegen war'n auf den Kanaren, wo wir in kurzen Hosen waren, die meisten Frauen herrlich braun, und ebenso auch anzuschau'n." - "Viel schlimmer war es ja in Schweden,
wir konnten dort nicht schwedisch reden. Mit Mühe sprachen wir sehr spröde nur "Schgool" und auhc noch "Smörebrööde". - "In Hamburg ward mir Angst und Bang, denn dort sind viele Nächte lang, so landete ich dann im Wahn, schlussendlich auf der Reeperbahn." - "Ganz fehl am Platz war zmitzt in Peking, mein Tropenhelm und auch das Trekking, weshalb die meisten der Chinesen, erstaunt und auch verblüfft gewesen." - "In Salzburg gab's zu feissen Gockeln Salat und weltberühmte Nockeln." - "Und beim Genuss von Wiener Schnitzeln, verspürte man im Hals ein Kitzeln." - "Ein Auto stand von uns in Polen, man sagte uns, es sei gestohlen." - "In Tokio erscholl ein Schrei, angeblich von 'nem Samurai, den hörte man bis nach Shanghai, das hiess dann übersetzt: Gang häi!" - "Von London stand im Katalog, kein Wörtchen über dessen Smog. Deshalb ist es dort in Westminster, beim schlechtem Wetter schampar finster." - "Im heeren Buckinghampalast, steht steht auf dem Balkon ohne Hast, nicht etwa gar der Mister Bean, o, nein, dort steht im Hut die Queen!" - "Prinz Philipp steht dann, wenn er kann, in Uniform grad nebenan." .- "Prinz Charles hat in der Villa, noch heiss geliebt auch die Camilla." -"Mit Ohren, fast wie Flügelschrauben, wahrhaftig, ja, ihr könnte es glauben." - "Und auch der Premier Macmillan
trug liebend gerne Sonnenbrillen, dagegen liebte Margreth Thatcher am Brunnen über's Leben gern Geplätscher." - "In USA gibt's bald ein Drama, das meint' im Weissen Haus Obama, stellt Trump zum Abschuss vor die Flinten und wählt danach die Lady Clinton!" - "Er sitzt im Präsidentenstuhl im Türkenland in Istambul und meint mit Stolz in seinem Wahn: Der Staat bin ich, der Erdogan."- "Wenn auf dem Petersplatz du trabst, siehst du vielleicht sogar den Papst. Daneben siehst du auf den Pisten, auch aus dem Glarnerland Gardisten. Sie stehen dort und halten Wache und dubiose Leut' im Schache." - "Im feinsten Hotel der Lofoten, isst man ein Poulet mit den Pfoten und nagt gewöhnlich noch nach Wochen an dessen Oberschenkelknochen." - "Da sagt der Sprüche Aktuar, der selber noch nie dorten war." - "Drum möge manches liebe Grüsschen, mit oder ohne Gänsefüsschen, ein wenig Ihre Zeit versüssen." - "Zum Schlusse grüsst Sie gern aus Gröden, der Übeltäter dieser blöden und in der Sommerhitz' und -hetze, dahingekratzten Kartensätze!" - "Passt's Ihnen nicht, sag' ich nur kess, statt Karten schreibe SMS! Und sitzen Sie gar hinter Gittern, versuchen Sie es doch mit Twittern!"
Mit der Bitte um Nachsucht und der Aufforderungm zum eigenen Tun ....
bis bald Ihr Pankraz F.
(2) Überarbeitete, ergänzte Fassung meiner Kolumne im "Fridolin" Schwanden vom 23. August 2001, entstanden im Tessin.
Karikatur Loriot aus: http://loriotisttod.beepworld.de/loriot.htm
Doris Morf (1927-2003)
an ihrem 75. Geburtstag
In memoriam
Doris Morf
oder
Drei Leben für eins? (1)
Erinnern Sie sich noch an Doris Morf? Die eher kleine Frau mit den schlohweissen Haaren, die glockenförmig ihr Gesicht umrahmten? Tiefliegende, forschende, unbestechliche Augen, eine kräftige, klassische Nase, ein geschwungener Mund und ein kräftiges Kinn gaben ihrem Gesicht Charakter. Die eher zerbrechlich, aber sehr nachhaltig und beharrlich wirkende Frau sagte noch vor zwei Jahren über den Tod: „Es ist gut, dass es ihn gibt. Ich stelle mir vor, dass man ganz dankbar ist, wenn man einmal abschliessen kann.“ Und weiter: „Schliesslich habe ich so viel gemacht – das reicht für drei Leben!“
Sie starb am Mittwoch, 27. August 2003. Krebs. Vier Tage vorher wurde für das Radio ihre letzte Visitenkarte, ihr geistiges Vermächtnis aufgenommen. Die Sendung „doppelpunkt“ am 2. und 3. September 2003 hiess: “Dein Werk soll deine Heimat sein – Letztes Gespräch mit Doris Morf“.
Weltanschaulich habe ich das Heu auf einer anderen Bühne als sie. Ich bezeuge ihr aus dieser Position Respekt und menschliche Wärme. Sie war eine überzeugte, feministisch betonte, linke intellektuelle Journalistin, Schriftstellerin und Politikerin. Ihre Domänen: Kultur, Energie, Umwelt, Erziehung. Ihre politische Farbe: Sozialdemokratie. Ihre Art der Arbeit: Workaholic. Zielstrebige Ausdauer und gründliche Argumentation bis zum Gehtnichtmehr. Ihr politischer Stil: gradlinig, sie kämpfte mit Argumenten, Ellbögeln missfiel ihr. Wo immer sie konnte, nahm sie Einfluss, dass Frauen Mandate in Kommissionen erhielten.
Steckbrief: Geboren am 17. September 1927 in St. Gallen als Doris Keller. Studium in Germanistik, Geschichte und Journalistik in Zürich. Drei Jahre Korrespondentin für verschiedene Schweizer Zeitungen in New York. Nach der Rückkehr: Verlegerin. Ab Mitte der sechziger Jahre Schriftstellerin: Romane, Kurzgeschichten, Kinderbücher, TV-Drehbücher, später Comics. Jubiläumspreis des Schweizerischen Lyceumsclub für den Roman „Das Haus mit dem Magnolienbaum“ (1964). In erster Ehe Mutter von drei Buben, von denen der älteste früh stirbt. Zwei Jahrzehnte Partnerschaft mit dem Schriftsteller, Fernseh- und Radiodramaturg André Kaminski (1923-1991), „Die Gärten des Mulay Abdallah“ (1983) und „Nächstes Jahr in Jerusalem“(1986). Heirat 1989. Tod von André Kaminski 1991. Krebs.
Politische Laufbahn: 1970-77 Mitglied des Zürcher Stadtparlaments, einer der ersten Frauen. 1975-90 Nationalrätin für die SP Zürich. 1984-90 Mitglied der parlamentarischen Versammlung des Europarats, u.a. Vizepräsidentin. 1992-97 Präsidentin der Schweizerischen Kommission der UNESO, ab 1993 im UNESCO-Exekutivrat. Ferner: 12 Jahre Stiftungsratsmitglied der Pro Helvetia. Wohnort Zürich, im Sommer: Locarno. Sterbedatum: Mittwoch, 27. August 2003.
Persönlich begegnet bin ich der weitgereisten Frau vor sieben Jahren im Tessin, als ihr
Mandat bei der UNESCO auslief. Früher sah ich sie im Fernsehen am Rednerpult im Natio-
nalratssaal, besonders präsent ist mir aber das eindrückliche TV-Interview gemeinsam mit
ihrem Mann André Kaminski.
Diese, mir nur aus den Medien bekannte Frau entdeckte ich live in der Chiesa S. Carlo Bor-
romeo in Magadino während eines Orgelkonzertes. Im abgedunkelten Kirchenraum schim-
merte ihr schlohweisses Haar in den Zuschauerreihen. In der Pause ging auf dem gepfläster-
ten Kirchenvorplatz mit Sicht auf den zunachtenden Lago Maggiore ein munteres internatio
nales Geparle los. Wir kamen ins Gespräch, sie war in Begleitung von Bekannten und Nach
barn. Auch unser Tal an der Linth kam zur Sprache. Seither korrespondierten wir einmal im
Jahr. Ich bediente sie mit Glarnerischem. Sie antwortete mit Texten über das Glarnerland
oder über kulturelle Themen, die sie in Zeitungen oder Zeitschriften entdeckt hatte.
Einmal schrieb sie: „Heute ist Vorabend zum Beginn des Filmfestivals; da werde ich in den
nächsten zehn Tagen täglich zirka drei bis fünf Filme sehen, bis mein Kopf dreimal so gross
wie normal sein wird. Aber es ist so ein bisschen mein Biotop.“ Ein Jahr später nannte sie
das Festival „die übliche August-Locarno-visuelle Orgie“. Später sandte sie mir aus ihrer
„Der Mann und der Stein“, ein Künstler, über den ich gerne mal schreiben würde. Mitbekom
men habe ich in diesen Tessiner Begegnungen, dass es ihr gelungen war, so zu lobbyieren
oder mitzuhelfen, dass wieder eine Frau das Präsidium der Schweizerischen UNESCO-Kom-
mission übernehmen konnte, nämlich Francesca Gemnetti, 1957, Stadträtin von Bellinzona,
Grossrätin des Kantons Tessin, Präsidentin des Tourismusbüros Bellinzona und Delegierte
im Zentralrat der SRG Bern. Erstmals konnte eine Vertreterin der italienischen Sprach-
minderheit den Vorsitz der dreissigköpfigen UNESCO-Kommission übernehmen.
Untätig war Doris Morf auch in den letzten Jahren nie. Witzig waren ihre Glossen im „Schpoiz“, „der einzigen Gratiszeitung, die etwas kostet“ „Wie man einen Drachen fängt“, „Wie man Wellen reitet“, „Wie man durch Niesen seinen Charakter vor- und blossstellt“...
Das letzte Lebenszeichen erhielt ich am 9. August 2002, also noch vor Jahresfrist. Sie dankte für einen heiteren Text des „Pankraz“: „Mir gefällt, wie sie Witz, Information und Literarisches gekonnt mischen. Die Glarner haben Glück mit ihrem Feuilletonisten, aber auch damit, dass sie noch Zeitungen haben, die Feuilletons drucken...“. Diesen Sommer fehlte sie im Konzertpublikum...heute wissen wir warum.
Die „rastlose Humanistin“, wie sie im St. Galler Tagblatt am Ende ihrer Karriere genannt wurde, repräsentiert in ihrem ständigen, lebenslangen Aufbruch den modernen Menschen und ein Frauenbild, das nur auf wenige zutrifft.
Ich zögerte zuerst, über Doris Morf zu schreiben. Angesichts der überwältigenden Mehrheit der Frauen, die ihr Karrierepotenzial als Hausfrau, Mutter, Gattin, Tochter und Grossmutter oder als Mitmensch in Nachbarschaft und Dorf verbrauchen, ohne je Schlagzeilen zu machen. Würde das Bild der Karrierefrau Unzufriedenheit oder falsche Wertungen wecken? „Rastloser Humanismus“ macht letztlich nicht glücklich, nur müde. Wie schnell ist man vergessen. Kinder in Genügsamkeit und in Anstand zu erziehen und eine Familie sorgend zusammenzuhalten, ist letztlich mehr als gleissende Erfolge auf internationaler Szene. Das sei festgehalten. Wer sich nicht selber Grenzen setzt und nicht einsieht, dass man nur werden kann, was man schon ist, wird immer nach etwas Neuem streben.
Diese Erkenntnis hindert mich aber nicht, ihre Leistung zu sehen und dankbar ihre Talente, ihre Liebenswürdigkeit als Mensch in Erinnerung zu behalten. Der Planet Erde ist nicht nur „ein bisschen unser Biotop“. Die Menschenrechte reichen nicht aus, uns als Geschöpfe zu definieren. Es muss noch mehr geben als die schönen Künste oder die „Humanisierung der Menschheit durch Erziehung“. Das ist die Sehnsucht, zu der mich das Leben der Doris Morf anstachelt! Die Erde ist kleiner als man glaubt, aber die Welt grösser als man denkt...
Bis bald! Ihr Pankraz F.
(1) Überarbeiteter Text meine Kolumne im "Fridolin" vom 11. September 2003.
Siehe auch: https://de.wikipedia.org/wiki/Doris_Morf
Fotos: oben. www.seniorweb.ch, unten: www.srf.ch
Doris Morf
Erinnerungsbild
Mario Botta im hintersten Krachen
oder
Die Bergkirche San Giovanni Battista in Mogno (1)
Falls Sie sich einmal über den Stil und die Architektur eines Bergkirchleins auseinander- setzen wollen, böte sich Ihnen eine wunderbare Gelegenheit fast zuhinterst im Maggiatal.
Wohl über 40 Kilometer von Locarno entfernt, im kleinen Dörfchen Mogno, das so klein und versteckt ist, dass man daran vorbeizufahren droht, steht der auffällige Bau. Die vom Star-architekten Mario Botta (2) projektierte Johanneskirche.
Erschwiggt man diese nach dem Abstieg vom Sambuccosee und dem letzten Dorf im Val Lavizzara, Fusio, glaubt man eine abgeschrägte Talstation einer Bergseilbahn zu erkennen. Entdeckt man sie jedoch vom Westhang des Lavizzaratals, meint man einen mächtigen kreisrunden Entlüftungsschacht aus dem Erdinnern zu sehen; ein Gebilde, das in Form und Ausmass einen Teufel in diese Gegend passt. Die paar Holzhäuser mit den Steindächern wirken noch kleiner als sie schon sind, und das Botta-nische Werk wirkt wie ein mächtiger Meteoreinschlag. Diese Kirche ist ein Fremdkörper in wildromantischer Landschaft. Sie ist nicht zur höheren Ehre Gottes oder zur Förderung der Frömmigkeit der Mognonerinnen und Mognoner entstanden, wohl aber als Attraktivität für Kunstfreunde und den Tourismus.
So, damit könnte man die Sache abhaken. Mario Botta wird das einen feuchten Kehricht kümmern, was ein kleines Würstchen aus dem Glarnerland zu seiner neuesten Kirchen-schöpfung sagt. Gemach, gemach. So sieht die Kirche von weitem aus.
Man muss wissen, dass am 25. April 1986 eine Lawine einen Teil des Dörfchens wegge-fegt und dabei auch das Johanneskirchlein zerstört hat. Auf den Tag zehn Jahre danach, am Markustag 1996, ist die jetzige Kirche, die den Schneegefahren trutzen soll, eingeweiht worden. Etwas von diesem menschlichen Kampf gegen die Bedrohung der Natur ist im Bauwerk verwirklicht worden. Nähert man sich der Kirche, muss man ein Strässchen pas-sieren, das durch ein paar Rustici umsäumt ist. Wang! Steht sie da wie eine mächtige Steintonne, gestreift wie ein Zebra, weil sich in der Waagrechten weisser Marmor und tief-grauer Granit abwechseln. Ein gewaltiger Rundturm - fast wie der Pulverturm in Zug - gibt dem Bau etwas Wehrhaftes. Über eine Granittreppe erreicht man das Innere der „Tonne“, einen halbkreisförmigen Vorplatz, entlang der Aussenmauern sind granitene Sitzgelegen-heiten geschaffen.
Ich nehme genau in der Mitte Platz und schaue ins Zentrum, zum Eingang der Kirche. Der Blick strebt hinauf auf das herwärts abgeschrägte Dach, das aussieht wie eine grosse Hostie. Diese ist aber durch eine Senkrechte, die Dachrinne, geteilt, und von ihr gehen wie die Rillen eines Blattes im spitzen Winkel senkrecht Zuführrinnen zum Rand des Kreises. Mit Ausnahme dieser „Zeichnung“ besteht das ganze, kreisrunde Dach aus Glas. Regnet es, wird durch diese Rillen das Wasser in die senkrechte Dachrinne geleitet und ergiesst sich in den Innenhof in einen Brunnen. Die Wasserführung ist so berechnet, dass sich der Wasserfall über die Glockenkonstruktion ergiessen kann, ohne die beiden untereinander angeordneten Glocken zu benetzen.
Im Innern der kreisrunden Kirche fällt das Licht von oben (vom erwähnten kreisrunden Glasdach) auf den Altar. Hinter diesem führt ein romanisch anmutendes Portal - immer aus Granit und Marmor - in die winzige Sakristei, wo Kästen für die Unterbringung der Para-menten in die Wände eingelassen sind. Hoch über dem Altar schwebt die leicht lädierte, frühere Holzfigur des gekreuzigten Christus. Die erwähnten Rillen im Glasdach werfen Licht und Schatten so auf dieses Kruzifix, dass man den Eindruck hat, es gingen Strahlen von ihm aus. Mit dem Gang der Sonne „leben“ die wandernden Schatten.
Nur gerade zwei Holzbänke sind aufgestellt; dadurch bleibt viel Raum. Am Ende der Quer-achse befinden sich je eine Nische, wohl weniger Seitenaltäre, als vielmehr Sitzgelegen-heiten. Ich setze mich einen Moment nieder, um so bequemer im Raum herumäugen zu können. Plötzlich wird dieser Raum zum Erlebnis. Die Entdeckungen überpurzeln sich und überlagern Skepsis und Fragen.
Der Architekt spielt mit den immer gleichen Elementen: Kreis und Linie, Licht und Schatten und wickelt diese um gedachte Funktionen und komponiert sie in die dritte Dimension, in den Raum.
Mit einem Mal verfliegen mein „Bunkergefühl“ und das Empfinden für die Härte und Last der Steinkolosse; innere Öffnungsbereitschaft und Entdeckungsfreude werden frei. In die-ser Steinwelt erhält die Christusfigur Leben und Ausstrahlung. Hier könnte man meditieren. Ich bleibe im Raum, meine Gedanken fliegen davon...
In die Steinplatten am Boden sind die Namen der Sponsoren eingemeisselt.
Während ich diese ungewöhnliche Kirche, die tausend Geheimnisse ins sich birgt, ver-lasse, fällt mir ein: Eigentlich waren wahrscheinlich die meisten Kirchen beim Bau „Fremd-körper“ in ihrer Umgebung. Das Kloster Einsiedeln, das Kloster St. Gallen, unsere Dorfkirchen von Bilten bis Elm, von Mühlehorn bis Braunwald, oder nicht ?
Und falls Sie sich in diese Diskussion einlassen, tatsächlich ins Maggiatal nach Mogno fahren, sollten sie sich zusätzlich die Zeit nehmen und sich mit der Bergseilbahn von Rove-ro am Fusse des Monte Ceneri auf den Monte Tamaro (3) tragen lassen. Unmittelbar neben der Bergstation steht nämlich ein weitere Botta-Kirche, eine regelrechte (65 Meter lange) Armenseelenabschussrampe, die ebenfalls erlebt und erörtert werden müsste.
Bis bald ! Ihr Pankraz F.
(1) Überarbeitete Fassung meiner Kolumne in "Fridolin", Schwanden, Nr. 34, 22. August 1996.
(2) Mario Botta, geboren am 1. April 1943 in Mendrisio. Schweizer Star-Architekt und Professor für Architektur.
siehe auch: https://de.wikipedia.org/wiki/Mario_Botta Die Kirche San Giovanni Battista wurde 1992-96 erbaut.
(3) Bild unten: Botta Kirche ohne Kirchturm auf dem Monte Tamario. Chiesa Santa Maria delle Angeli, 1992-94 erbaut.
BIlder:
http://architecturalgrammar.blogspot.ch/2011/04/chiesa-di-san-giovanni-battista-at.html
Bild unten: Chiesa
http://www.botta.ch/Page/Sa%201996_188_Tamaro_en.php
Richard Seewald 1889 - 1976
Kardinal Karl Borromäus 1538 - 1584
Was hat Karl Borromäus mit Marie Menzi zu tun ?
oder
Der Kardinal und Richard Seewald
Ferien können recht spannend sein, vor allem, wenn man in südlicher Sonne in unvermutet über Spuren der Vergangenheit stolpert und diese ins Glarnerland zurückreichen.
Magadino. Kirche San Carlo. Ich bleibe vor einem Wandbild stehen: Hat da nicht neulich ein Historiker die Gemälde in der Näfelser Kirche erklärt? Ja doch, er hat auf das Oberbild des Johannesaltares gezeigt, das sei das Porträt von Karl Borromäus. Es gleicht dem Bild, das ich gerade betrachte, aufs Haar.
Über 70 Treppenstufen erreicht man keuchend die schneeweisse, weit herum sichtbare Tessiner Kirche. Vom Vorplatz bietet sich eine herrliche Rundsicht auf den Lage Maggiore und die Bolle di Magadino, die in ihrer Fortsetzung bis gegen Bellinzona reicht und auch schon „Central Park“ des Tessins geheissen wurde.
Die weisse Kirche wurde erst um die Mitte des letzten Jahrhunderts nach Plänen des Mäiländer Architekten Giacomo Moraglia in spätklassischem Stil erbaut. Später kam der eigenwillige Torre von Alessandro Ghezzi dazu.
Grossgemalte Hirsche und Engel dominieren Kuppel und Wände. Am erwähnten Bild, eben „San Carlo a Magadino“ bleibt man stehen. Der Dargestellte gebietet einem lodernden Brand Einhalt. Doch, wie kamen die Magadinesen dazu, ihr Gotteshaus um 1848 einer Persönlichkeit zu widmen, die im 16. Jahrhundert gelebt hatte und nur 46 Jahre alt geworden war?
Man muss wissen, dass sich der aufstrebende Handelsort Magadino politisch um 1843 von Vira getrennt und damit eine eigene Geschichtsschreibung begonnen hat... und zu einem richtigen Dorf gehört eine eigene Kirche. Sie hatten es sehr wohl im Kopf, aber trotz zunehmendem Wohlstand zu wenig im Beutel. So ist denn die geplante, gewaltige Stein-treppe von der Strasse bis zur Kirche hinauf, eine Skizze geblieben. Sie wäre dreimal so lang geworden wie die jetzige. Diesen Wunschtraum hat wohl auch der Bau der Eisenbahn durchkreuzt. Item – wie kam also Magadino zu seinem Karl und wie dieser zu seiner Kirche?
Die Antwort findet man eingangs des Dorfes. An der Fassade einer ehemaligen Osteria heisst es: „Qui fece un incendo rifulgera la carità ardente lo zelo invitto onde fu taumaturgo San Carlo. Primo Agosto 1581.” Einheimische haben folgende Übersetzung akzeptiert: “Hier liess eine Feuersbrunst brennende Nächstenliebe mit grossem unbesiegbarem Eifer aufleuchten, weil der Wundertäter San Carlo gewirkt hat. Erster August 1581.“
Der 1538 im Piemont vornehm geborene Carlo wird schon als Zwölfjähriger als „Kommendatar-Abt“. Er studiert weltliches und kirchliches Recht in Pavia, doktoriert dort mit 21 Jahren. Im selben Jahr besteigt sein Onkel als Pius IV. den Papstthron. Carlo wird nach Rom berufen und dort als Kardinalsadministrator und Staatssekretär dessen engster Mitarbeiter. 1560 erhält er das Erzbistum Mailand auf Lebenszeit. Nach der Bischofsweihe anno 1563 wird er Kardinal und kehrt 1566 nach Mailand zurück. Von dort aus setzt er die Beschlüsse des Konzils von Trient (1545-63)um. Besondere Aufmerksamkeit widmet er den eidgenössischen Katholischen Orten und deren Vogteien im Tessin, die seiner geistlichen Gerichtsbarkeit unterstehen. Die Katholischen Orte schlagen ihn erfolgreich als „Protector Helvetiae“ vor. Auf seine Initiative wird 1586 eine ständige Nuntiatur in der Schweiz errichtet. 1579 gründet er in Mailand das Collegium Helveticum, wo sich angehende Geistliche, auch aus dem Kanton Glarus, mit Stipendien weiterbilden können. 1584 ist Karl Borromäus massgeblich an der Gründung des Collegio Papio in Ascona beteiligt, bringt die Kapuziner in die Schweiz und vieles mehr. Er stirbt am 3. November 1584 in Mailand, wird am 1. November 1610 heilig gesprochen. Soviel zur schillernden Persönlichkeit, die wegen ihres Renommées und der wundersamen Brandlöschung als Kirchenpatron für die Magadinesen geeignet schien.
Weshalb aber beauftragte man, ziemlich genau hundert Jahre nach dem Bau der Kirche Richard Seewald, die Kirche so modern zu bebildern? Da waren doch schon eine ergreifen-de „Pietà“ von Antonio Ciseri (1851) und eine ungewöhnliche „Natività“ von Mauro Conconi (1848).
Ein Abstecher nach Ascona klärt auf. Beim Gang zum Buchantiquariat (Libreria della rondine), man mag es mir kaum glauben, sticht mir in der Auslage vor der Tür der Ausstellungskatalog zum 100.Geburtstag Richard Seewalds in die Augen. Man weist mich auf eine Sonderausstellung im gleichen Hause hin. In einem winzigen Raum hängen einige Werke. Auf einem Video läuft das Lebensbild des Künstlers. Der 1976 verstorbene Seewald zeigt sein Atelier in Ronco sopra Ascona. Er versteht sich als „Grieche“, frönt mediterranem Denken und folgt zweimal dem Ruf als Dozent nach Deutschland. Er hat auch eine ausge-prägte Phase kirchenmalerischen Schaffens. Anfangs der dreissiger Jahre lässt er sich in der Schweiz nieder; 1939 wird er mit seiner Frau Uli eingebürgert.
Beispiele kirchlicher Kunst hinterlässt er in der Marie-Lourdes- und Theresienkirche in Zürich, in der Friedhofkapelle Döttingen, in der Gut Hirt-Kirche in Aarburg, im Wallis... und eben in Magadino. Der äusserst vielseitige Künstler illustriert ungezählte Bücher, malt Theaterkulissen, hinterlässt viele Holzschnitte, reist viel, vor allem in den Mittelmeerraum; sein Werk sind die bekannten Hofgarten-Arkaden in München. Er schreibt selber Bücher, Theaterstücke und ist mit Asconas Künstlergruppe „Der grosse Bär“ verbunden. Im Museo comunale e arte moderna in Ascona ist ihm eine eigene Sala gewidmet.
Natürlich verfolge ich die Spuren Seewalds auch in Ronco sopra Ascona. In der dortigen St. Martinskirche, deren Hauptaltarbild vom schon erwähnten Antonio Ciseri stammt, kann man einen etwas mickerigen, aber in sich geschlossenen Kreuzweg von Seewald finden wie auch die vom ihm ausgemalte Taufnische. Schräg vis-à-vis erheische ich Einlass in die Casa Ciseri, der Familie des erwähnten Malers Antonio Ciseri. Eine äusserst liebenwürdige Dame zeigt mir zwei entzückende, ausgemalte Räume. Vor allem der eine, mit zwei Apsiden, strahlt ein mediterranes Lebensgefühl aus. Die Nachkommen Ciseris wohnten in Florenz und sie hüte dieses Kleinod. Seewalds Haus aber sei heute ein Hort für junge Künstler, jedoch nicht öffentlich zugänglich.
Hingegen befindet sich unweit der Scuola eine kleine Kapelle. Dort stosse ich auf eine Madonna von Seewald. Etwas oberhalb des Dorfes, mit paradiesischer Aussicht auf den Lago Maggiore und die Borromäischen Inseln entdecke ich das Grab des Künstlers. Ein schlichter, rötlicher Stein mit eingehauener Kreuzigungsszene, umrahmt von üppig blühenden Begonien, erinnert an Richard Seewald und seine Frau Uli. Grabbesucher haben kleine Steine auf den Grabstein gelegt. Ich suche mir einen schneeweissen Kiesel und lege ihn dazu, so wie ich das in Jerusalem auf jüdischen Gräbern gesehen habe.
Gleichzeitig entdecke ich, dass seine Lebensgefährtin Uli am Himmelfahrtstag und just an seinem 78. Geburtstag verstorben ist. Ein seltsames Zusammentreffen zweier Daten. Da Seewald stets das Ritual liebte, hole ich in der Ecke am Brunnen ein Kanne und tränke die Blumen auf seinem Grab. Mir dünkt, so banal der Umgang mit einer Giesskanne sein mag, er habe etwas Rituelles. Das Gefühl mit einem besonderen Menschen verbunden zu sein, ist stark und kaum beschreibbar. Ein weisser Schmetterling umtanzt mich dabei.
Später erfahre ich, Seewald habe im Schmerz über den Verlust seiner Uli, 150 seiner Werke zerstört! Er hat dabei mit der gleichen Radikalität geantwortet, die er bei wichtigen Lebensentscheidungen, ungeachtet aller Reaktionen, durchzieht. Seewald selber stirbt neun Jahre später am 29. Oktober 1976 in München an einem Herzinfarkt.
Den Bildernachlass hat er als Stiftung „Richard und Uli Seewald“ der Schweiz vermacht, sie untersteht der Verwaltung der PRO HELVETIA. Juristische Aufsichtsperson ist ein Glarner, Dr. Vital Hauser, Meilen!!! Ja – und Sie fragen noch, was Karl Borromäus mit Marie Menzi zu tun hat?
Die Antwort führt zurück ins Glarnerland. Dass ich in San Carlo di Magadino, dem „Bekannten“ der Näfelser Kirche wiederbegegnen kann, ist der Malkunst von Richard Seewald zu verdanken. Dessen Mutter aber – hört, hört – ist eine gewisse Marie Menzi, die aus dem Glarnerland stammt. Ist das nicht wunderbar? Und wann machen wir eine Seewald-Ausstellung im Kunsthaus?
Bis bald! Ihr Pankraz F.
Als "Souvenir" habe ich mir den 230-seitigen Prachtsband erstanden:
Seewald, 1889-1976, Eine Werkauswahl mit zeitgenössischen Würdigungen und Zitaten aus Büchern von Richard Seewald, mit einer einleitenden Monographie von Anton Sailer, Verlag Karl Thiemig, München, 1977. (ISBN 3-521-04082-8)
(1) Überarbeitete Fassung meiner Kolumne in "Fridolin" 7. September 2000.
Siehe auch:
https://de.wikipedia.org/wiki/Richard_Seewald
www.richard-seewald.de
http://www.kulturfoerderung.ch/de/address/227/ (Richard Seewald-Stiftung Ascona)
http://www.ticinarte.ch/index.php/seewald-richard.html
www.emsiana.at Bild Karl Boromäus oben
Casa Ciseri - Ronco sopra Ascona
Die Casa Ciseri gilt als schönstes Patrizier-haus im Ort und ist gleichzeitig Geburts-haus des wohl berühmtesten Sohnes Roncos: Antonio Ciseri, Das Haus liegt an prominenter Lage, gleich gegenüber dem Wahrzeichen von Ronco, der Kirche San Martino. Es wurde im 18. Jahrhundert vom Architekten Francesco Meschini erbaut. Meschini war ein bekannter und beliebter Architekt, er hatte auch massgeblich an der Konstruktion der „Tremola“, der Gott-hardpassstrasse mitgewirkt. In der Casa Ciseri wurde im Lauf der Zeit immer wie-der um- und angebaut. Sie präsentiert sich heute mit einer komplexen und spannenden Raumstruktur. Der „Apsidensaal“ und der „Saal der Verlobten“ im Westflügel sind die Prunkstücke des Hauses. Der „Apsi-densaal“ (Plural des griechischen Worts „Apsis“, Wölbung), er enthält zwei Apsiden, wird von einer neoklassizistischen Kassettendecke der Brüder Francesco und Giuseppe Ciseri aus den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts geschmückt. Der „Saal der Verlobten“ wurde eben-falls von den Brüdern Ciseri gestaltet. Die Wände zeigen Landschaften um den Comersee und Orte, in denen die Handlungen von Alessandro Manzonis Roman „I Promessi Sposi“, „Die Verlobten“, spielen (Manzoni, 1785-1873, war ein bedeutender Mailänder Schriftsteller; zum ersten Jahrestag seines Todes komponierte Giuseppe Verdi sein „Requiem“). Die Casa Ciseri befindet sich heute noch im Besitz der Familie. Seit 1988 ist das Haus vermietet. Die beiden Säle im Westflügel werden heute als Galerie, Kulturzentrum und Verkaufsort für kunsthandwerk-liche Produkte, die im sozialtherapeutischen Institut „La Motta“ in Brissago hergestellt werden, genutzt.
(Quelle: www.ticinarte.ch/index.php/ronco-sascona-casa-ciseri.html)
“Otla. ni. ad. raug. e. eneta. Pipmi”
oder
„Schau vorwärts, Werner, und nicht hinter dich!“ (1)
Die kaum verständliche Titelzeile steht auf dem Haus der Familie Ciseri in Ronco sopra Ascona und bedeutet im übertragenen Sinne soviel als was Gertrud Stauffacher im "Wilhelm Tell" von Friedrich Schiller zu ihrem Gatten sagt.
Der Einfallsreichtum der Menschen kennt keine Grenzen. Sie tendieren dazu, ihre Einfälle der Nachwelt zu erhalten. Sie schreiben Bücher, malen Bilder, bauen Häuser, sprechen auf CDs oder halten Sinnsprüche öffentlich zugänglich. Wenn ich morgens früh aus dem Fen- ster gucke, lese ich gleich zwei Haussprüche: „Gott schütze unsere Heimat!“ steht auf dem benachbarten, behäbigen Holzhaus. Es wurde von einem Sigristen erbaut, der in unsiche- rer Zeit Patriotismus und Frömmigkeit unter einen Nenner brachte. Dass man die lieben Mitmenschen manchmal mehr fürchten soll, als den lieben Gott und den Feind, mag der Sinnspruch auf dem anderen Haus andeuten: „Es ist kein Mensch so weis’ und alt, der machen kann, was jedem gfallt“. Man mag tun, was man will, die Lästermäuler sterben nie aus und die Kritiker sind flugs auf dem Platze.
„Hier liegen meine Gebeine, ich wollt’ es wären Deine!“ ist der Titel eines Büchleins über Grabinschriften. Ein gut 75jähriger Landwirt aus Nordenhamer (D) hat sich ein Hobby da- raus gemacht, auffällige Grabsprüche zu sammeln. Nun hat er bereits im Peter Kurze Ver-lag, Bremen, das zweite Bändchen herausgebracht unter dem Titel: „Die Welt ist ganz und gar verdorben, ich bin an einem Lebkuchen gestorben“.
Vor etwa zehn Jahren hatte ich die dornenvolle Aufgabe, einer Ärzteversammlung ein Grusswort zu überbringen. Was sagt man zu Ärzten, um sie nett zu empfangen und sie wenn möglich in gute Stimmung zu bringen? Ich fand ein treffendes Zitat, das auf dem Grabstein eines bekannten Arztes eingemeisselt war und auf dessen segensreiche Tätigkeit hinwies: „Hier ruht der liebe Arzt, Herr Frumm. Und die er heilte rings herum.“
Dem eben erwähnten Büchlein ist die folgende Grabinschrift von 1837 entnommen: „Ich ruh in diesem Haus von meinen Eheleiden aus, und wünsche meinem Geschlecht zuliebe, dass meine Gattin stets Witwe bliebe:“ Auf einer Grabstele hiess es: „26 Jahre lebte er als Mensch und 37 Jahre als Ehemann.“
Sogar die Krankengeschichte ist mitunter kurz und knapp angegeben: „Hier ruht meine innigst geliebter Mann; er starb an einer Verknorpelung seines zu guten und edlen Herzens.“ Humoriger, wenn auch eher schwarz, tönt: „Hier ruht Hans Baptist Häberlein, er starb an einem Pflaumenstein, den er aus Unbedacht verschluckt – ach, hätte er ihn aus- gespuckt!“.
Schullehrer und Organist Kugler ruht unter dem Spruch: „Hier schläft nach langer Arbeit sanft genug, der Schüler, Orgel, Weib und seine Kinder schlug:“
Und das Dienstmädchen hinterlässt als Botschaft: „Ihr Lebtag hat sie Staub gewischt; nun ist sie selber weiter nischt.“
Der 1788 verstorbene Mairbauer Peter Urban im Dorf Tirol bei Meran liess auf dem Grabkreuz seiner zänkischen Gattin hinschreiben: „Hier liegt mein Weib, Gott sei’s gedankt; bis in das Grab hat sie gezankt. Lauf, lieber Leser schnell von hier,
sonst steht sie auf und rauft mit dir.“
Im Allgäu leben sich gar auf Marmorstein Ethnien aus. „Hier ruhen unter Schnee und Eis, a toter Bayer und a Preiss. Bet für den Bayer, Wandersmann, der Preiss, der geht dich gar nix an. Doch wenn du betest, bete leis, sonst wacht er wieder auf, der Preiss.“ Dass der Urheber des Spruches „ka Preiss“, sondern „a Bayer“ war, muss eigentlich nicht sonderlich betont werden.
„Cave canem“ oder „Achtung vor dem Hunde“ ist geflügeltes Wort für die Lateinschüler und Hausanschrift und aus einer Zeit, als es noch keine Haftpflichtversicherungen gab. Den-noch hatten schon die Römer Hundemarken. „TENE ME NE / FUGIA ET REVO / CAME AD DOMNUM/ EVVIVENTIUM IN / ARACALLIST“, was kluge Forscher übersetzten: “Fang mich ein, wenn ich entlaufe, und bring mich meinem Herrn Viventius auf dem Landsitz des Callistus zurück”.
Mancher berühmte Politiker, der längst vergessen ist, würde vor Neid erblassen, wenn er-führe wie schön ein Pferd verewigt ist: „Borysthenes Alanus, ein Ross vom Stall des Kai-sers, durch Wasser und durch Sümpfe, und durch Etruriens Hügel, ist es dahingeflogen, Pannoniens Eber jagend, verspritzt es Schaum und Geifer, bis an des Schwanzes Spitze, Verfolgte es den Keiler, wagt keiner ihm zu schaden, kein weissgezahnter Eber, wie es zuweilen vorkommt, mit ungebrochner Jugend, und unverletzten Knochen, zu seiner Zeit gestorben, hier im Gefilde liegt es.“
Wer möchte nicht gar als Hund begraben sein, wenn sich die Nachwelt seiner so schön er- innert: „Sie war so klug fast wie ein Mensch auf ihre Art, / welch ein Schatz, o weh!, haben wir verloren./ Du kamst stets, süsse Patrice, an unsern Tisch, / sassest auf meinem Schoss und schmeicheltest um Bissen/ mit flinker Zunge lecktest du den Becher aus, / den meine Hand dir oft hinhielt,/ kam müde ich nach Haus,/ empfingst du mich mit freudig wedelndem Schwanz.“ Dies Eloge ist in „Carmine Latina Epigraphica 1176“ überliefert.
Kurz und bündig steht auf einem anderen Hundefriedhof: „Wagen hat er bewacht, nie war sein Bellen vergebens. / Jetzt muss er schweigen/ Sein Staub wird vom Schatten beschützt.“
Solche Zeugnisse sind, wenn man genau hinsieht, hilflose Versuche, eine Beziehung zu Menschen oder Tieren auszudrücken. Sie können von Fassungslosigkeit bis zu Sarkasmus reichen, drücken aber eine Grenze aus, die der Mensch nicht überschreiten kann und den-noch irgendwann überschreiten muss. „Du stehst noch hier / Und ich bin hin. / Bald bist du dort, / wo ich schon bin.“ - Alois Johannes Lippl hat auf einer Alphütte die folgende Inschrift gefunden: „Ich leb und weiss nicht wie lang/ ich sterb und weiss nicht wann/ ich fahr und weiss nicht wohin/ mich wundert’s , dass ich fröhlich bin.“
Alpenländischer Schwermut ist bisweilen mediterranische Leichtlebigkeit gegenüber zu stellen. Eben: „Otla. ni. ad. raug. e. eneta. pipmi”. Von hinten nach vorn gelesen: “Im pipa tene e guarda in alto!”. Die nette Frau, die mir die Casa Ciseri in Ronco sopra Ascona zeigte, übersetzte so: „Stopf starken Tobak in die Pfeife und schau wie der Rauch zum Himmel steigt!“ oder einfacher: „Pfeif drauf und Kopf hoch!“ Alles in allem „Hic saxa loquntur.“ – „Hier sprechen die Steine.“
Bis bald! Ihr Pankraz F.
(1) Abgeänderte Fassung meiner Kolumne "Dies und das" in: "Fridolin", Schwanden, im August 2000.
Siehe auch: Die Prunkstücke des Hauses sind der Apsidensaal und der Saal der Verlobten, Casa Ciseri Ronco sopra Ascona,
Zu Antonio Ciseri: Kunstmaler (1821-1891), aus Ronco stammend, arbeitete in Florenz, wo er sich vor allem der sakralen Malerei widmete.Werke (so sein vielleicht bestes Spätbild, "Ecce homo") sind im Palazzo Pitti in Florenz zu sehen, eine Grablegung findet man in der Kiche Madonna del Sasso in Locarno.
Unscheinbar ist das kleine Strassenbistro.
Die Tischchen sind klein, das Sonnendach wird aber zum Schirm, wenn es vom Tessiner Himmel schüttet wie aus Giesskannen.
(Foto: http://www.barsargenti.ch)
oder
Atemtherapeutinnen on the road (1)
Es schiffte wie aus Kübeln. Die Tessiner Sonne war in weiter Ferne. Graue Nebel hingen wie Schärpen um die gewaltigen Buckel rund um den Lago Maggiore. Man war froh um einen Espresso liscio senza zucchero e senza panne. Für sagenhaft günstige zwei Franken zwanzig.
Vor dem Ristorante Sargenti (in VIra Gambarogno) stehen runde kleine Tischchen und Korbstühle, beschirmt von einem Segeltuchvordach. Hier lässt sich trefflich Zeitung lesen. Man hat Zeit, man hat Ferien. Die Einheimischen parlieren zwar in ihrem singenden Gambarogneser Dialekt ihr „Bien dü!“ (Guten Tag!) und haben die Fröhlichkeit in jedem Atemzug. Daneben hocken behäbig die Deutschschweizer Feriengäste, vertieft in den „Blick“, den „Tagi“, die „NZZ“ oder irgend ein Lokalblatt von ennet dem Gotthard, bisweilen einen Hund zu ihren Füssen. Der Platz ist eng, die Tischchen sind zu klein, eine Zeitung auszubreiten, dann verstellt man halt zwei.
In dieses alltägliche, ausnahmsweise graue Bild platzen kichernd drei Grazien und hüpfen mit ihren Sandalettchen über die schmale Hauptstrasse. Sie suchen Obdach und drei Plätze.
Da sie suchendenden Blickes Platz erheischen, falte ich meinen Zeitungsverlag sofort zusammen und mach ein Tischchen frei. „Hou, das isch aabech nätt, danggä viilmool!“, tönts zweimal baseldeutsch und einmal bünderherrschäftlich. Und damit wäre die Sache eigentlich abgeschlossen gewesen. Da ich aber meine Zeitung nicht mehr ausbreiten kann, widme ich mich dem Espresso. „Gooht’s Iihnä soo?“ fragt eine der drei Ankömmlinge besorgt. „Ja, jaa, friili! Mer händ ämaal Platz!“ Und so entspinnt sich ein Gespräch.
Nach der üblichen Wettereinschätzung starte ich die wunderfitzige Frage, was wohl das gemeinsame Element sei, was sie drei verbinde. Weibliche Neugier ist ja bekannt, aber männliche löst Belustigung aus. Kichernd kommt’s zurück: „Rootä-Si emool!“. Ich vermute, sie seien nicht nur ferienhalber hier, sondern hätten vielleicht einen gemeinsamen Kurs besucht oder so... „Häjoo! Wie kenne Si daas saage?“. Achselzucken. Einfach so. In der Tat, die drei Tee- und Capuccinotrinkerinnen haben eine Ferienwohnung gemietet, machen teils Ferien, teils repetieren aus ihrem Fachgebiet. Alle sind sie Atemtherapeutinnen, die gemeinsam eine mehrjährige Ausbildung absolviert haben und nun ihr Wissen in Kursen und in Therapie weitergeben. - „Atemtherapeutinnen? Bei uns gibt’s einen „Schnuferclub“, ein lieber Kollege mit Asthmaproblemen erzählte mir schon davon...“ Dann wird es interessant. Wahrscheinlich bin ich der erste Espressotrinker der Welt, der im Strassenkaffee eine dreistimmige Lektion in „Atemtherapie“ erhält!
Und zwar so:„Ist Ihnen „Der Erfahrbare Atem“ nach Ilse Middendorf ein Begriff? ’Erfahr- bare’ gross geschrieben“. – „Nää! Völlig neu, ich bin ein Banause in Sachen Atem thera- pie.“ Dann geht’s los: „Atem hat eine lebenstragende Funktion. Atmend können wir unse- ren Leib kennen lernen. Atem kann erfahren und erlebt werden. Er teilt sich über das Wort nur eingeschränkt mit.“ Etwa so laute die Philosophie der Professorin und Begründerin einer Atemlehre. Sie habe 1965 in Berlin ein Institut für Atemtherapie und Atemunterricht gegründet. Es trage heute den Namen „Ilse Middendorf Institut für den Erfahrbaren Atem“. Ja, ja, ein Atemkurs wäre nötig, um diesen Institutstitel in einem Atemzug aussprechen zu können. Weiter im Text:: „Atem ist eine führende Kraft in uns, Atem ist Urgrund und Rhyth- mus des Lebens, Atem – ein Weg zum Sein.“ Nun wird es mir fast ein wenig zu schwierig. Beispiele müssen her. Etwa kalte Füsse. Geschulte Atemfachleute wüssten, dass kalte Füsse ein Symptom dafür seien, dass das „Gleichgewicht der Körperfunktionen“ aus dem Lot sei. Durch Atmung sei das erfahrbar und ausgleichbar. Ich wende ein, das kriegte ich mit „Autogenem Training“ (nach J. H. Schutz) mit links hin. Kaum hätte ich die „Schwere- übung“ („Meine Hand ist schwer...“) angesagt, würde meine Hand schon warm. Ich könnte innert kürzester Zeit kalte Füsse „wegzaubern“. Richtig, hält mir jene der Damen entgegen, die einen Schnauz vom Capuccino um den Mund hat, im Autogenen Training spiele Atmen eine entscheidende Rolle.
Mich deucht, dass Atem unser ganzes Sein zusammenhält. Alls hängt zusammen - nicht nur der Gasaustausch (Sauerstoff rein, Kohledioxyd raus), nicht nur das ganze Mobile und die Harmonie zwischen Atem und zig Organen, sondern die ganze Dynamik des Kreislaufs, die Wahrnehmung meiner Umwelt und meiner Innenwelt selber, sogar das Empfinden, auf das der Atem sofort reagiert. Schliesslich – um es sehr gewagt zu sagen – empfinde ich Atmen als Funktion, die mich zum „Fliegen“ befähigt. Meine Gedanken sind mitgetragen vom Atemholen und Wieder-Ausatmen, auch von der Pause dazwischen. Als Laie kann ich kaum etwas in Worte fassen, was unbewusst funktioniert. Und jedermanns Atem ist doch etwas Individuelles und ganz Persönliches.
Die Entdeckung, ich müsse selber das Atmen „michgemässer“ gestalten, ist im wahrsten Sinne des Wortes „atemberaubend“! Plötzlich erkenne ich, dass der Atem zum Symbol der Ganzheit und zum alles durchdringenden Lebensprinzip wird. In einer spezialisierten Welt, konzentrieren sich kompetente Leute so professionell auf immer weniger, dass sie am Ende über nichts alles wissen. Doch das Verständnis für den Gesamtzusammenhang verlieren sie! Atem ist keine Spezialisierung auf irgend etwas, sondern immer das ganze Leben. Buddha (540 – 480 v. Chr.) sagte: „Das erste, was zu lernen ist, ist der Atem.“ Ein indisches Sprichwort überliefert: „Der Atem ist dein bester Kamerad!“. Chinesen heissen den Atem „den königlichen Weg des Heilens“ und sagen: „Der Bauer atmet mit dem Bauch, der König mit dem grossen Zeh.“ Die Hebräer sehen den Atem als „Hauch Gottes“. Und Gandhis Vor- name „Mahatma“ soll nicht nur „grosse Seele“, sondern auch „grosser Atem“ heissen. Unsere westlichen Hirne stellen viel nüchterner fest: Ohne Nahrung kann man einige Wo- chen überleben, ohne Wasser etwa drei Tage, ohne Atem nur wenige Minuten.
Wir sprechen von davon, „ausser Atem zu sein“, wenn wir nach Luft schnappen und keuchen. Den „Atem anhalten“ müssen wir beim Tauchen oder wenn etwas ganz spannend ist. Eine „Atempause“ gönnt man sich nach hohen Anstrengungen. Sprinter sind im Ziel „ausser Atem“. Wer sich verschluckt und beinahe zu ersticken droht, ist froh, wenn er „wieder zu Atem kommt“. Er muss wahrscheinlich zuerst „Atem holen“, bis er wieder etwas aussprechen kann. Bei Bewusstlosen kann „der Atem aussetzen“. Workaholic wollen immer alles „in einem Atemzug erledigen“. Der Sterbende sei, so heisst es gelegentlich, „bis zum letzten Atemzug“ bei Bewusstsein gewesen. Und so schön sagte Herr Goethe: „Im Atemholen sind zweierlei Gnaden: / Die Luft einziehn, sich ihrer entladen. / Jenes bedrängt, dieses erfrischt; / So wunderbar ist das Leben gemischt. / Du danke Gott, wenn er dich presst, /Und dank ihm, wenn er dich wieder entlässt!“
Wenn Sie jetzt tief Luft holen, sind sie ein neuer anderer Mensch! Und wenn Sie im
Ristorante Sargenti drei Grazien begegnen, halten Sie den Atem an, es könnte sich um Atemtherapeutinnen handeln.
Guätä Schnuuf! Bis bald! Ihr Pankraz F.
(1) Abgeänderter Text meiner Kolumen "DIes und Das" im "Fridolin" Schwanden 6. August 2004 Frontpage.
Madonna del Sasso
Blick auf den Lago Maggiore, den Gamnaorgno und die Magadinoebene.
Bild: http://www.xn--kraftpltze-w5a.ch/tessin/kraftplaetze/madonna-del-sasso-locarno/index.html
oder
Auf dem Sasso über Locarno, soviel Meter über Meer, als das Jahr Tage hat, steht seit dem 17.Jahrhundert das berühmte Kapuzinerkloster „Madonna del Sasso“. Man erreicht das herrlich gelegene Kloster zu Fuss im Zickzack auf steinigem Weg, den eine Via Crucis (Kreuzweg) begleitet, nur ein Sprung weit vom Locarneser Bahnhof beginnend. Bequemer geht’s in nur fünf Minuten mit der kleinen Bahn von der Via alla Ramogna aus. Bei der Haltestelle gelangt man praktisch „bodänebä“ in die Klosteranlage. Der Vorplatz ist aus soliden aufgestellten „Maggiaböllen“ gepflästert. Unter mehreren Torbogen und verwinkelten, breiten Treppen erreicht man, vorbei am plastisch dargestellten Abendmahl, wo den Aposteln die Farbe von den Köpfen blättert, der Pfingstszene mit dem Feuerflammen auf den Häuptern der Jüngern und Mariens und an der Klosterpforte zum breit ausladenden Platz vor der Kirche. Fünf Torbögen mit vier abgeschabten Säulen beherrschen die Fassade. Sie sind den drei alten Portalen als Arkade vorgeschoben. Sie tragen die fünfteilige ockergelbliche Fassade mit zwei Doppelfenstern und einer kleinen Rosette. Unmittelbar über den Bögen sind auf kreisrunden hellen Medaillons, die Profile würdiger, etwas grimmiger Häupter verewigt. Das Innere der mit Fresken, Gemälden und Stukkaturen überladenen Kirche wirkt optisch etwas zu niedrig. Rechterhand sind zurückversetzt zwei Beichtstühle, die mit grünem Lichtlein anzeigen, dass sie „im Betrieb“ sind. Eine unbeschreibliche Wirkung hat das zentrale Gnadenbild, eine Muttergottes mit Jesuskind, beide mit goldener Krone, vorn über dem Altar. Raffinierte Kunstblumen hinterlassen den Eindruck frischer Lilien und tiefroter Rosen.
In einer halben Stunde wird Fra Ignazio Gottesdienst halten. Er sieht seit zwanzig Jahren gleich aus: Hochwasserkutte, fast breiter als lang und fast tiefer als breit, Sandalen. Wenn er so mit leicht auswärtsgerichteten Füssen durch den Kirchengang schreitet und seine Gummisohlen witsch, witsch, witsch, ein quietschendes Geräusch von sich geben, hat man wegen des Schwingens der Kutte den Eindruck, er bewege sich mehr hin und her als vorwärts. Sein strahlendes Gesicht verströmt Gemütlichkeit. Er verschwindet in der Sakristei, um die Santa Messa vorzubereiten und sich die Messgewänder überzuziehen.
Draussen ist der geräumige Kirchenplatz, ganz aus Stein, von einer nicht ganz brusthohen Mauer umgeben, denn aussen fällt der Felsen wohl mehr als 150 Meter steil ab. Eine unvergleichliche Aussicht auf Locarno bietet sich dar. Zu Füssen liegt einem auch das Maggiadelta, der Lago Maggiore, auf dem gerade das Kursschiff mit heiserem Hupen aus der Bucht ausläuft und eine grosse Kurve mit langgezogenem Wellendreieck zieht. Am anderen Ufer grüssen die Dörfer und Bergbuckel des Gambarogno, im Osten in gespenstischem durchsichtigem Morgendunst die Magadinoebene und im blasser werdendem Blau die Alpen. Ein seltsam schwer- herber Duft steigt aus dem dichten Grün des Laubwaldes empor. Ein unsichtbarer Bach verrät seine Gegenwart durch frisches, anhaltendes Rauschen.
Während ich mich beim Hinunterschauen mit breit ausgelegten Ellenbogen abstütze, weil mir wegen der Höhe die Knie wackeln, landet plötzlich eine Taube just neben mir auf der Mauer. Sie steht auf dem äussersten Mauerrand und hält ihren Hals stinkwichtig in die Höhe. Mit etwas ruckartigen Bewegungen schaut sie mich mal mit dem linken, mal mit dem recht Auge an, verharrt, leicht tänzelnd über dem schwindelerregenden Abgrund. Ihre Füsse sind so puterrot wie ich das schon bei Truthennen gesehen habe. Sie erinnern mich an die Farbe des verwitterten Halses eines rothaarigen Älplers auf der Lachenalp, dem ich als Knabe beim Zentrifugnen zugesehen hatte. Die Taube scheint ein unglaubliches Vertrauen in mich zu haben. Ich spreche Sie an: „Colomba bella, ’cosa fai?“ – Sie scheint die rechte Achsel zu zucken, spreizt leicht die Federn ihres rechten Flügels und räkelt sich. Immer wieder verlagert sie ihr Gewicht vom einen auf den andern Fuss, hat mich aber ständig im Auge, Sie wissen, mal mit dem linken, mal mit dem rechten. Ihre Grundfarbe ist ein sauberes Hellgrau, leichte Blautöne und weisse Striemen zeichnen ihre Flügel. Den Hals ziert ein Kränzlein von hellbraunen Federchen, die ihr einen franziskanischen Touch geben. Auf ihrem Schnabel ist eine weisses Höckerchen. Ich bin gespannt wie lange es das Tier neben mir aushält. Es sind keine 90 Zentimeter Entfernung. Noch nie in meinem Leben konnte ich so nahe eine Taube betrachten.
Sie gibt keinen Laut von sich. Schaut ins Tal hinaus. Beäugt mich immer wieder, mit dem linken Auge, mit dem rechten Auge. Das Auge ist kreisrund und hat einen starrenden Ausdruck. Fast wie eine Fotolinse. Die Haut ums Auge scheint leicht gerötet. „Wie heisst du wohl?“ frage ich mehr flüsternd als sprechend, um sie nicht zu vertreiben. Die kräftige Taube (in Luino sind sie viel schlanker und mickeriger) tänzelt unbeeindruckt auf der gleichen Stelle, am äussersten Rand der Mauer. Sie macht überhaupt keine Anstalten wegzufliegen. Sie passt in den Frieden des frühen, noch kühl-frischen Sonntagmorgens hinein. Dann geht es mir durch den Hinterkopf: „Was für eine Botschaft hat diese Taube für mich?“ Es ist doch sehr ungewöhnlich, dass sich eine Taube, die doch sonst den Sicherheitsabstand zu den Menschen einhält, sich mir so sehr genähert hat...und bleibt. Sicher riecht sie mir die Harmlosigkeit und Tierliebe an. Sie wird sogar zum Orakel, weil ich nun mit ihr ein Gespräch über private Dinge abhalte. Aufmerksam scheint sie alles, was ich sage, aufzunehmen. Natürlich spielt sich die Illusion, von der Taube verstanden zu werden, in meinem Kopf ab. Aber es sieht wirklich so aus, als ob sie zuhöre. Hat sie eine Seele? Ist sie eine Seele? Will mich jemand grüssen, der nicht anwesend sein kann? Wenn ja, wer könnte es sein? Die Taube ist das Symbol für Pfingsten, für den Heiligen Geist und damit für den Inbegriff von Liebe, für den Frieden oder die Sehnsucht danach. Doch diese Taube ist nicht weiss, sondern hebt sich bläulichgrau mit der auf den Hals heruntergerutschten Kapuzinertonsur ab vom wunderbaren Himmel, der sich über mir ausbreitet. Weisse bauchige Schönwetterwolken verändern das Blau am Firmament immer wieder neu. Ich atme den schwer-süsslichen Duft aus dem Laubwald ein und lausche dem Rauschen des unsichtbaren Baches.
Plötzlich fliegt in etwa dreissig Metern Entfernung eine andere Taube vorbei, und schwupps hebt meine Colomba vom Mauerrand ab und zieht in kühner Kurve ihrer Kollegin oder ihrem Kollegen nach. Die Gesellschaft einer Taube ist ihr doch lieber als die eines Menschen. Vielleicht war es der Geliebte der Taube.... Verblüfft starre ich dem Paar nach, das aus dem Blickfeld verschwindet. Vielleicht war sie wirklich nur ein Gruss oder ein Symbol für die Augenblicke des Lebens, die entgleiten, wenn man sie festhalten möchte...
Vom Kirchturm beginnt dieses tessinische Päläng-ting-päng-tägg-derlüü...und ruft zur Santa Messa. Während sich ein gutes Dutzend Leute, vornehmlich Einheimische, in die Bänke begibt, ist ein Padre, Fra Leopoldo, wie ich erfahre, noch am Beichthören. Er brummt, wie wenn des Nachts Centurions durch das Dorf fahren, er hat wohl eine schwerhörige Beichtende zu absolutionieren. Vorn am Altar bekreuzigt sich tempera-mentvoll, aber strahlend Fra Ignazio „Nel nome del padre e del figlio e dello spirito santo...”
Bis bald! Ihr Pankraz F.
(1) Abgeänderter Text meiner Kolumne "Dies + Das" im "Fridolin", Schwanden, Juli 2003
Email: madonnadelsasso@cappuccini.ch
Flugaufnahme
Madonna del Sasso
mit Blick auf Locarno und das Maggiadelta
Foto:http://www.lago-maggiore.de/informationen/98-madonna-del-sasso-in-locarno.html
Homepage Kloster Madonna del Sasso: (Bild unten)
http://www.madonna-del-sasso.ch/kontakt-cat235.html
Email: madonnadelsasso@cappuccini.ch
Christopherus auf dem Bootshaus
oder
Die verschwundenen Bilder von Soldenhoff am Ceresio
Sie werden verständnisvoll den Kopf schütteln, wenn ich Ihnen sage, ich hätte a) am Luganersee nach einer Hotelanlage gesucht, die es nicht mehr gibt und b) nach Aussengemälden an deren Gebäuden, die Soldenhoff (1) in Oel geschaffen hatte, die nicht mehr existieren.
Ich weiss nicht mehr, von wem ich zum ersten Mal vernommen habe, Alexander Solden- hoff habe im Tessin gemalt; vielleicht von einem begeisterten jungen Sammler aus dem Hinterland oder ob ich es x-wo und irgendwann unter Freunden aufgeschnappt hatte.
Sie erinnern sich sicher. Soldenhoff (1882-1951) weilte seit 1898 regelmässig des Som- mers in Linthal, fand in der Planura seine Frau Anna Zweifel, war 1905-07 Zeichnungs-lehrer der Höheren Stadtschule in Glarus, kaufte 1908 im „Bödeli“ in Linthal ein Anwesen und richtete dort ein Atelier ein. 1916 schuf er ohne vorherige Entwürfe die gewaltigen Wandmalereien der sechzehn Meter langen und fünf Meter hohen Aula der Stadtschule in nur zwölf Wochen und verzichtete auf ein Honorar! Diese unter den Themen „Orpheus“ und „Prometheus“ entstandenen Neorenaissance-Würfe haben dem heutigen „Soldenhoffsaal“ den Spitznamen „sixtinische Kapelle des Glarnerlandes“ eingebracht. Soldenhoff arbeitete auch in Frankfurt/Main und Zürich.
In Zürich lernte Soldenhoff offenbar einen gewissen Han Coray (2) (3) kennen, eine turbulente, vielseitig und kaum erfassbare Persönlichkeit. Der nur zwei Jahre ältere Coray, hatte sich nach bewegtem Leben als Lehrer, Schuldirektor, Autor, Buchhändler, Kunstsammler und Mäzen im Tessin niedergelassen und an wunderschöner Lage in Agnuzzo am Ceresio-gestade des Luganersees das Hotel Casa Coray aufgebaut und zum Kunsttempel ge- macht. Wie es zum Kontakt Coray-Soldenhoff gekommen war, konnte ich nicht ausmachen. Aber in der hervorragenden Biografie von Rudolf Koella: „Die Leben des Han Coray“ (Zürich, Scheidegger & Spiess, 2002) steht kurz und bündig: „Gelegentlich kam im Winter auch der Zürcher Maler Alexander Soldenhoff angereist, dessen expressiven Malstil Coray so sehr geschätzt haben muss, dass er ihm 1944 den Auftrag erteilte, auf vier Aussenwänden der Casa Coray Wandbilder zu malen.“ Basta! Das war’s.
In der Folge erfuhr ich von einem jungen Hinterländer Soldenhoffsammler, es müsse sich um religiöse Historienbilder handeln. Von der Kuratorin des Tessiner Kunstmuseums Carla Burani war zu erfahren, letztes Jahr habe im Museo cantonale d’Arte aus dem Nachlass von Coray eine Ausstellung stattgefunden, das Hotel Casa Coray existiere aber nicht mehr. Das Gespräch mit dem Biografien-Autor Rudolf Koella ermunterte mich, am Ball zu bleiben und mich an den Sohn Corays zu wenden, der im Tessin lebe.
In der Zwischenzeit hatte ich aber im schön gestalteten Bildband „Alexander Soldenhoff, Maler und Radierer, 1882-1951, Glarus Baeschlin 1982“ aus dessen Werkkatalog zwei handfeste Hinweise gefunden. Zwei Faustskizzen eine Südfront „9.15 m x 4.20m gemalt im April-Mai 1945 Öl auf weissem Verputz“ sodann „Christopherus am Bootshäuschen“ -
„3m x 4.50 Oel rot-grün auf gelb verputzt“ – „Wand gegen Westen“ Und ferner: „Die Fresco dünn (Terpentin-Firnis 1:20) gemalt auf Verputz mit 4-5 Farben gemischt aus Büchsen dünnflüssig. Christopherus wie Mosaik! Oft feste aufgetupft auf sehr grobem Verputz.“
Nach einem munteren Telefongespräch mit der Enkelin von Ham Coray suchte ich das Gelände am Luganersee auf und bin erschüttert.
Von der Strasse von Agno nach Morcote gelangte ich nach etwa 300 Schritten auf schat- tigem Waldsweg ans Ufer, von wo sich im Gegenlicht ein traumhaft schöner Blick auf den Ceresio, das ist der Ausläufer des Luganersee, und auf das entfernte Magliaso auftut. Ein einheimisches Ehepaar hat im Schatten eine improvisierte Picknicksecke installiert. Die Tochter hat einen zusammenklappbaren Stuhl ins Wasser gestellt und lässt ihr Füsse von den leichten Wellen umschmeicheln, und während sich die Mutter auf einer Luftmatzratze räkelt und wiegen lässt, kredenzt der Papa am Tischen einen Nostrano. Ein paar Meter weiter liest ein Exilthurgauer in einer deutschweizer Boulevardzeitung. Er beklagt sich, dass sich an diesem einmalig schönen Badeplatz zeitweise nur Menschen bestimmter Nationali- tät träfen und eine grauenhafte Sauordnung hinterliessen, und er zeigt mir einen kurzen Pfad durch Schilf und Gestrüpp zu einer kleinen Halbinsel. Ich strebe dann allein ins „Landinnere“ der ursprünglich 22'000 Quadratmeter grossen Parzelle und komme mir vor wie Christoph Kolumbus. Ein Urwald und Dickicht ungeahnter Vielfalt stellt sich mit ent- gegen. Ich zerkratze mir die Beine an Brombeerstauden, wehre mich gegen 1 ½ Meter hohe Brennnesseln, bewundere haushohe Platanen, Ahornen, Erlen, und aller Arten Sträu- cher und Blumen von einer Vielfalt wie sie ganz zum wilden und wuchernden Ideenwesen des Han Coray passen. Mitten im Gestrüpp stosse ich auf einen kleinen Bach, den Ausfluss des Muzzanoseeleins, ohne Namen.
Was ist aus dieser Welt geworden?! Was ein tollkühner Geist und kaum zu bremsender Han Coray aufgebaut hat, ist von Käufern der Liegenschaft dem Erdboden gleichgemacht worden. Ich erfuhr, dass sich ein Überbauungs-Projekt bislang nicht realisieren liess, alles ist total verwildert. Katastrophal und ekelerregend sind da Unrat, Scherben, Whisky-flaschen, Getränkeddosen, Kehrichtsäcke, gar Damenbinden und andere Hygieneartikel, Lumpen, Speisereste... Fast scheint es mir, der Geist des Han Coray, dessen Asche nach seinen Tod hier verstreut worden sein soll, verhindere bislang, erschüttert über das Verschwinden seines Werkes, dass hier überhaupt Neues enstehe...
Auf der Casa comunale erfahre ich die Adresse des derzeitigen Besitzers in der Deutsch-schweiz (gar nicht so weit vom Glarnerland entfernt). Der Bauchef zeigt mir bereitwillig historische Bilder der einst behäbigen, sehr gepflegten Anlage, auch Innenaufnahmen. Aber an die Bilder der Aussenfronten mag er sich nicht erinnern. Luftaufnahmen der sukzessive gewachsenen Hotelanlage hinterlassen wegen der Innenhöfe und Galerien einen fast klösterlichen Eindruck.
Das Geheimnis um die Soldenhoffbilder lüftet erst der Sohn Pieter Coray, der mir bereit-willig und freundlich Auskünfte erteilt. Er erinnert sich der Bilder. Auf einer Nordfront (gegen die Strasse) war „Die Hochzeit von Kanaan“, gegen die Seeseite südlich ein Gemälde mit Fischen und Menschen, möglicherweise die wunderbarer Brotvermehrung, nach Osten gegen den „Bach, der durch meine Wiese fliesst“ (Coray) eine Art Paradies mit vielen Menschen, eine Art Garten Eden und genau erinnert sich Sohn Coray an die Bootshütte mit dem Christopherus. Es ist eine Tragödie! So wunderbare Werke sind nicht mehr. Ich könnte zornig werden.
Noch mehr Grund dazu hätten die Nachkommen Corays. Einerseits beglückt, einen Seiten- blick auf Soldenhoffs Schaffen erhalten zu haben, bin ich auf Han Coray gestossen, eine faszinierend-tragische Gestalt, die – zeitlebens ohne je einen Arzt aufzusuchen - in seinen 94 Lebensjahren wohl ein Dutzend verschiedene Leben gelebt hat. Anderseits bin ich er- schüttert wie schnell ein Lebenswerk verschwinden kann. Wie sinnig sind seine eigenen Worte, die seine Angehörigen nach seinem Tod auf dem Leidzirkular zitierten: „Wind hat meine Planken zerrissen, Wogen zernagten Kiel und Bug. Auf mondhellen Wellen lächelt das Wissen um alle Freude, die ich einst trug.“ Auf dem Kirchlein von Muzzano steht unter der Sonnenuhr: „Horas non numero nisi serenas:“ (Ich zähle die Stunden nicht, ausser die heiteren....)
Bis bald! Ihr Pankraz F.
Überarbeitete und ergänzte Fassung des gleich betitelten Texte im "Fridolin", Schwanden.
(1) Soldenhoff Alexander Leo, *13. September 1882 in Genf, +9. November 1951 in Zürich, Bürger von Zürich.
Er schuf als Maler, Zeichner, Radierer und Flugzeugkonstrukteur. Wandmalereien, Bühnenbilder. Landschaften, Figurenbilder, Porträts, Akt, Stilleben. Seine Tätigkeits bereiche: Wandmalerei, Malerei, Zeichnungen, Lithographien, Radierungen, Holzschnitte, Bühnenbilder. Im SIKART Lexikon der Kunst in der Schweiz schrieb Zita Caviezel-Rüegg anno 1998:
"1886 zog die aus polnischem Adel stammende Familie Soldenhoff von Genf nach Zürich. Alexander verbrachte ab 1898 den Sommer regelmässig in Linthal. Ersten Zeichenunterricht erhielt er an der Kunstgewerbeschule Zürich bei Hermann Gattiker, 1902–05 war er Schüler von Rudolf Koller. Den wichtigsten Anstoss für Soldenhoffs künstlerische Entwicklung gab ein Aufenthalt in Paris 1904. Anschliessend trat er eine Stelle als Zeichenlehrer an der Höheren Stadtschule in Glarus an, wo er nebenbei malte und Privatschüler ausbildete. Nach der Heirat mit Anna Zweifel 1906 erwarb er bei Linthal ein kleines Anwesen, in dem er 1917 ein Atelier einrichtete. Nach ersten Ausstellungserfolgen in Deutschland übersiedelte Soldenhoff nach Frankfurt am Main. Hier wirkte er zwischen 1908 und 1912 als Bühnenbildner und künstlerischer Beirat am Schauspielhaus und an der Oper. 1914 kehrte er nach Linthal und Zürich zurück, behielt aber bis 1922 sein Atelier in Frankfurt.
In den 20er Jahren beschäftigte sich Soldenhoff
zunehmend mit dem Flugzeugbau. Erst nach dem Scheitern seiner Bemühungen, ein taugliches «eigenstabiles schwanzloses Pfeilflugzeug» herzustellen, widmete sich Soldenhoff wieder ganz der Kunst.
Die letzten Jahre verbrachte er in Ascona. Seine Werke wurden an vielen Ausstellungen gezeigt; 1934 und 1935 fanden in den Kunstmuseen von Winterthur und St. Gallen Einzelausstellungen statt;
1952 und 1982 veranstaltete das Kunsthaus Glarus Gedächtnisausstellungen.
Soldenhoffs Lehrjahre sind vom Realismus Rudolf Kollers und von der veristischen Malweise Giovanni Segantinis geprägt. In Paris nimmt er Einflüsse des Impressionismus
auf und nähert sich mehr und mehr der dramatischen Linie Eugène Delacroix’ und Peter Paul Rubens’. Anregungen erhält er auch von den deutschen Expressionisten. Später wird Rembrandts Lichtführung
entscheidend. Trotz dieser vielfältigen Anregungen entwickelt Soldenhoff eine eigenwillige künstlerische Sprache, bei der vor allem die leuchtende Farbe eine starke symbolische Aussagekraft
besitzt. In den 20er Jahren dynamisieren sich seine Gemälde dank einer spannungs-geladenen Linienführung und kontrastreicher, heller Farbgebung. Die weiblichen Akte, die Stilleben und
Landschaften vermitteln ein Gefühl lebhafter Sinnenfreude. Auch Themen und Gestalten aus der Literatur, der klassischen Mythologie und der Bibel erfahren durch das persönliche Empfinden des
Künstlers eine vitale Vergegenwärtigung. Eine Sonderstellung innerhalb seines Werks nehmen die 1917 gemalten monumentalen Wandbilder zu den Themen Prometheus und Orpheus im Glarner Stadtschulhaus ein, in denen Figuren und Landschaft ekstatisch verschmelzen. Soldenhoffs grafische Werke (Lithografien,
Radierungen, Holzschnitte), seine Zeichnungen und Buchillustrationen zeichnen sich durch expressive Linien und malerische Schwarzweiss-Abstufungen aus.
Als junger Künstler fand Soldenhoff mit seinen dramatischen, starkfarbigen Bildern viel Beachtung und Anerkennung. Nach der Frankfurter Zeit vollzog sich seine
Entwicklung mehr im schweizerischen Bezugsrahmen. Seither stand er ausserhalb der bestimmenden Kräfte der Epoche, und sein Werk geriet allmählich in Vergessenheit.
Werke: Kunsthaus Glarus; Zürich, Graphische Sammlung der ETH; Wandmalerei, 1917, Glarus, Aula des Stadtschulhauses."
Siehe: www.sikart.ch/KuenstlerInnen.aspx?id=4000090 , abgerufen am 16. Juni 2016.
(2) Rudolf Koelle: Die Leben des Han Coray. Scheidegger und Spiess, Zürich 2002. ISBN 978-3-85881-137-0.
(3) Han Coray. *26. April 1880 in Thal SG, +23. Oktober 1974 in Agnuzzo, er hiess eigentlich Karl Heinrich Ulrich Anton Coray,
Schweizher Reformpädagoge und Kunstsammler. Siehe: https://de.wikipedia.org/wiki/Han_Coray
Trouvaille: Originalaufnahme von Han Coray
beim Mähen von Schilf und Seegras am Ufer seiner Liegenschaft am Ceresio.
Quelle: http://www.seniorweb.ch/knowledge-article/dada-ist-auch-anti-europa , abgerufen am 16.
Juni 2016.
Ostinato in Magadino
oder
Der Hund am Orgelfestival (1)
Als Laie liess ich mich vor Jahren von meinem studierten Verwandten in ein Orgelkonzert mitschleppen. Es lohnte sich; denn es wurde zum wunderbaren Erlebnis.
Zwar musste er mir Vieles erklären. Worauf ich hören sollte, was die Komponisten mit ihren Stücken beabsichtigten, was die Register dazu ausmachten... Der Organist musste ein gottbegnadetes Wunderkind sein. Ich war hingerissen und beschloss, in Zukunft öfters hinzugehen.
Gelegenheit hatte ich letzthin in einer Tessiner Kirche. Ein belgischer Organist war ange- sagt. Neben den Einheimischen, die man am herzlichen Schäkern und wilden Gestikulieren erkannte, gab es da schneidige und behäbige Deutsche, ein schwarzes Ehepaar und italienische Fachleute, die ihre Köpfe schon vor der Kirche in eine Partitur steckten. Auf dem Parkplatz sah man allerhand Autonummern: NL, S, A, F, B, I, viele TI und wacker Deutsch-schweizer, darunter mein GL.
Ein bärtiger Professore begrüsste die signore e signori mit einem Schwall von Erklärungen, die im Hall der Kirche untergingen. Das Konzert begann. Die lieblichsten Töne erfüllten das Kirchlein. Nach einer Dreiviertelstunde gab es den ersten Applaus und Unterbruch. Auf dem Kirchenvorplatz ging bei herrlicher Abendstimmung eine muntere internationale Par- lerei los.
Nachher erlebte ich eine Weltpremiere. Eine altersmässig schwer zu schätzende Dame mit pechschwarzen, streng nach hinten gekämmten Haaren und einem Guri obendrauf, sass etwas breithüftig, aber bolzengerade justament vor mir. Während den "Etudes sans pé- dales" von Clément Loret ging ein Ruck durch die Dame vor mir. Schwupp tauchte auf ihrer linken Schulter eine Hundeschnauze auf. Eine schwarze, feuchte Nase, ein grauweisser struppiger Kopf mit aufgestellten Augenbrauenhaaren und runde Kulleraugen schauten mich an und musterten mich unentwegt. Auch während der "Fantaisie op. 16" von César Franck wurde ich nicht aus den Augen gelassen. Von Zeit zu Zeit änderte die Dame vor mir die Lage des Hundes, der sich herumbündeln liess wie ein kleines Gööflein.
Plötzlich schoss der Wauwau auf und starrte gebannt auf die rechte Kirchenseite hinüber, wo ein älterer, eingenickter Herr knarrende Schnarchgeäusche von sich gab. Bei Pierre Froidebise' "Sonatine" schlief auch der Hund ein. Durch die "Elegie op. 38" von Flor Peeters wieder geweckt, begann er mehrmals unverschämt zu gähnen. Er riss sein Maul so weit auf, dass man fürchtete, er könnte sich die Kiefer aushängen. Er wirkte zudem noch ansteckend. Etliche Leute hielten sich die Hand vors Gesicht und spannten ihre Hals- und Backenmuskeln. Das Schlussstück von André Laporte hiess "Ostinato" und war es auch.(Ostinato = hartnäckig). Das moderne Werk tönte mit seinen Dissonanzen für den Hund und für mich ungewohnt. Einerseits schien der Organist mit der vollen Hand, ja mit dem ganzen Unterarm, auf das Manuale zu drücken, anderseits wähnte man, es hüpfe eine Katze wahllos über die Tastaturen. Blieb der Organist länger auf dem gleichen, wohl tiefsten Ton des Pedales stehen, erfüllte eine Dauervibration den Raum und ging durch Mark und Bein. Nachgeahmte Blitzschläge peitschten dazwischen und Klangbilder quietschten, die an ungezählte Gummisohlen auf blankgeputztem Inlaid erinnerten. Der arme Hund fuhr jedesmal zusammen, wenn eine Ton-Garbe durch die Luft fegte.
Ausgerechnet bei der leisesten Stelle rutschte mir das Programmheft zu Boden. Da mich der Hund nicht nur strafend anglotzte, sondern noch leise knurrte, wagte ich nicht, es wieder aufzuheben. Ich wollte nicht gebissen werden.
Plötzlich war das Stück zu Ende. Applaus rauschte wie ein Sturmregen durch die Kirche. Da mich der Hund im Schach hielt und immer wieder das Weisse seiner Augen zeigte, getraute ich mich nur unauffällig zu applaudieren. Ruckartig stand die Dame plötzlich auf und trug den Vierbeiner senkrecht haltend wie ein Kind, das die Windeln voll hat, ener- gischen Schrittes zur Kirche heraus.
Nicht mehr zu erfahren war, ob die Dame für ihren Hund Eintritt bezahlt hatte...
Bis
bald! Ihr Pankraz F.
(1) Überarbeitete Fassung meines Textes im "Fridolin" vom 11. Mai 1994
Botta pur
oder
Weit hinten im Maggiatal (1)
Falls Sie sich einmal über den Stil und die Architektur eines Bergkirchleins ausein- andersetzen wollen, böte sich Ihnen eine wunderbare Gelegenheit fast zuhinterst im Maggiatal.
Wohl über 40 Kilometer von Locarno entfernt, im kleinen Dörfchen Mogno, das so klein und versteckt ist, dass man daran vorbeizufahren droht, steht der auffällige Bau. Die vom Stararchitekten Mario Botta projektierte Johanneskirche.
Erschwiggt man diese nach dem Abstieg vom Sambuccosee und dem letzten Dorf im Val Lavizzara, Fusio, glaubt man eine abgeschrägte Talstation einer Bergseilbahn zu erkennen. Entdeckt man sie jedoch vom Westhang des Lavizzaratals, meint man einen mächtigen kreisrunden Entlüftungsschacht aus dem Erdinnern zu sehen; ein Gebilde, das in Form und Ausmass einen Teufel in diese Gegend passt. Die paar Holzhäuser mit den Steindächern wirken noch kleiner als sie eh schon sind, und das Bottanische Werk wirkt wie ein mächtiger Meteoreinschlag. Diese Kirche ist ein Fremdkörper in wildromantischer Land- schaft. Sie ist nicht zur höheren Ehre Gottes oder zur Förderung der Frömmigkeit der Mognonerinnen und Mognoner entstanden, wohl aber als Attraktivität für Kunstfreunde und den Tourismus.
So, damit könnte man die Sache abhaken. Mario Botta wird das einen feuchten Kehricht kümmern, was ein kleines Würstchen aus dem Glarner Hinterland zu seiner neuesten Kirchenschöpfung sagt. Gemach, gemach. So sieht die Kirche von weitem aus.
Man muss wissen, dass am 25. April 1986 eine Lawine einen Teil des Dörfchens weg- gefegt und dabei auch das Johanneskirchlein zerstört hat. Auf den Tag zehn Jahre danach, am Markustag 1996, ist die jetzige Kirche, die den Schneegefahren trutzen soll, eingeweiht worden. Etwas von diesem menschlichen Kampf gegen die Bedrohung der Natur ist im Bauwerk verwirklicht worden. Nähert man sich der Kirche, muss man ein Strässchen passieren, das durch ein paar Rustici umsäumt ist. Wang! Steht sie da wie eine mächtige Steintonne, gestreift wie ein Zebra, weil sich in der Waagrechten weisser Marmor und tiefgrauer Granit abwechseln. Ein gewaltiger Rundturm - fast wie der Pulverturm in Zug - gibt dem Bau etwas Wehrhaftes. Über eine Granittreppe erreicht man das Innere der „Tonne“, einen halbkreisförmigen Vorplatz, entlang der Aussenmauern sind granitene Sitz- gelegenheiten geschaffen. Ich nehme genau in der Mitte Platz und schaue ins Zentrum, zum Eingang der Kirche. Der Blick strebt hinauf auf das herwärts abgeschrägte Dach, das aussieht wie eine grosse Hostie. Diese ist aber durch eine Senkrechte, die Dachrinne, geteilt, und von ihr gehen wie die Rillen eines Blattes im spitzen Winkel senkrecht Zu- führrinnen zum Rand des Kreises. Mit Ausnahme dieser „Zeichnung“ besteht das ganze, kreisrunde Dach aus Glas. Regnet es, wird das Wasser durch diese Rillen in die senkrechte Dachrinne geleitet und ergiesst sich in den Innenhof in einen Brunnen. Die Wasserführung ist so berechnet, dass sich der Wasserfall über die Glockenkonstruktion ergiessen kann, ohne die beiden untereinander angeordneten Glocken zu benetzen.
Im Innern der kreisrunden Kirche fällt das Licht von oben (vom erwähnten kreisrunden Glasdach) auf den Altar. Hinter diesem führt ein romanisch anmutendes Portal - immer aus Granit und Marmor - in die winzige Sakristei, wo Kästen für die Unterbringung der Para- menten in die Wände eingelassen sind. Hoch über dem Altar schwebt die leicht lädierte, frühere Holzfigur des gekreuzigten Christus. Die erwähnten Rillen im Glasdach werfen Licht und Schatten so auf dieses Kurzifix, dass man den Eindruck hat, es gingen Strahlen von ihm aus. Mit dem Gang der Sonne „leben“ die wandernden Schatten.
Nur gerade zwei Holzbänke sind aufgestellt; dadurch bleibt viel Raum. Am Ende der Quer- achse befinden sich je eine Nische, wohl weniger Seitenaltäre, als vielmehr Sitz- gelegenheiten. Ich setze mich einen Moment nieder, um so bequemer im Raum herum- äugen zu können. Plötzlich wird dieser Raum zum Erlebnis. Die Entdeckungen überpurzeln sich und überlagern Skepsis und Fragen.
Der Architekt spielt mit den immer gleichen Elementen: Kreis und Linie, Licht und Schatten und wickelt diese um gedachte Funktionen und komponiert sie in die dritte Dimension, in den Raum.
Mit einem Mal verfliegen mein „Bunkergefühl“ und das Empfinden für die Härte und Last der Steinkolosse; innere Öffnungsbereitschaft und Entdeckungsfreude werden frei. In die- ser Steinwelt erhält die Christusfigur Leben und Ausstrahlung. Hier könnte man meditieren. Ich bleibe im Raum, meine Gedanken fliegen davon...
In die Steinplatten am Boden sind die Namen der Sponsoren eingemeisselt.
Während ich diese ungewöhnliche Kirche, die tausend Geheimnisse ins sich birgt, ver- lasse, fällt mir ein: Eigentlich waren wahrscheinlich die meisten Kirchen beim Bau „Fremdkörper“ in ihrer Umgebung. Das Kloster Einsiedeln, das Kloster St. Gallen, unsere Dorfkirchen von Bilten bis Elm, von Mühlehorn bis Braunwald, oder nicht ?
Und falls Sie sich in diese Diskussion einlassen, tatsächlich ins Maggiatal nach Mogno fahren, sollten sie sich zusätzlich die Zeit nehmen und sich mit der Bergseilbahn von Rovero am Fusse des Monte Ceneri auf den Monte Tamaro tragen lassen. Unmittelbar neben der Bergstation steht nämlich ein weitere Botta-Kirche, eine regelrechte (65 Meter lange) Armenseelenabschussrampe, die ebenfalls erlebt und erörtert werden müsste.
Bis bald ! Ihr Pankraz F.
(1) Überarbeitete Fassung meines Textes im "Fridolin" Nr. 34, 22. August 1996
Beschreibung der Kirche. siehe www.gld-dazio.ch/de/aspetti-culturali-chiesa-mogno/chiesa-di-mogno
Foto siehe angegebene Homepage www.gld-dazio.ch
Fallendes Birkenblatt
Mein Birkenblatt
oder
Ein Moment für die Ewigkeit (1)
Um 07:12 Uhr des 22. Juli 1993, an einem herrlichen Sommermorgen im Tessin, zudem an einem Donnerstag, sah ich etwa 150 Meter über dem Lago Maggiore ein Birkenblättchen von seinem wohl 15 Meter hohen Baum in östlicher Richtung steil abfallend zu Boden wirbeln, der aufgehenden Sonne entgegen.
Der Himmel war wolkenlos bis auf ein paar winzige Schlirpchen. Zum Gezwitscher im nahen Wald kamen die Geräusche des erwachenden Dorfes, unten am Ufer des Lago Maggiore hinzu - Lastautos in der Ferne, das Bolzen eines Helikopters vom Flugplatz Magadino, Baggergeräusche des Militärs, das ein Abbruchobjekt am See am Abräumen war, das Heulen eines beschleunigenden Motorrades, wie ein akustischer Strich durch die Landschaft ... und anderes mehr.
Doch dies war nur die Kulisse; in meiner nächsten Umgebung war Stille und Ruhe.
Nur das kleine Birkenblatt ist dort niedergegangen, nach einem lautlosen Wirbel durch die Luft, nach kunstvollen Schwüngen, teils flatternd wie ein Schmetterling, teils drehend wie ein Windrad, aber rasch sinkend ins kräftige, recht hohe Gras, niemand weiss mehr wo; man kann es vergessen. Wäre ich Komponist, ich müsste den letzten Flug dieses Birkenblättchens mit Noten beschreiben.
Nun werden Sie fragen, was in aller Welt dieser kleine Totentanz des winzigen Birkenblattes auf der Frontseite des "Fridolin" zu suchen habe. Was ist schon ein Birkenblatt? Es hat ja nur einen Familiennamen, "Birkenblatt", sonst gar nichts. Keinen Vornamen, keine Nummer, keine Bedeutung für das Leben der Leser...nichts. Seine Lebensdaten sind nirgendwo aufgeschrieben. Getrieben wurde es mit den ungezählten und abertausenden anderer Birkenblättchen in diesem Frühjahr. Sein einziger Unterschied zu den übrigen Blättern: Vorzeitiger Abgang am 22. Juli 1993 um 07:12 Uhr. Zu früh für eine Birkenblatt.
War es krank? Trennten es die Folgen eines vorausgehenden Gewitters vom Baume? War die Amsel schuld, die sich im Geäst eben zu schaffen gemacht hatte? Waren Käfer am Werk? Ist gar der Baum krank? - Es ist müssig nach Ursachen zu fragen. Denn das Birkenblättchen ist verschwunden, vergessen und wartet der natürlichen Zersetzung bis es wieder ins Erdreich aufgenommen wird und seine Stoffe anderweitig dienen können. Vielleicht ist es übers Jahr oder erst in zweien ein Teil des Grases, einer Blume, eines Unkrautes oder einfach Erde.
Wie das einzelne Haar eines Menschen, das der Wind fortträgt. Wie wir selber, die wir, wenn es Zeit ist, herunterfallen von dem Baum des Lebens und zurückkehren zur Erde und unsere Seele vielleicht an einen Ort wandert, der niemand beschreiben kann, weil von dort noch keiner zurückgekommen ist, der hätte berichten können.
Nur eines will noch vermerken: Wir sind in eine eigentümliche Schicksalsgemeinschaft getreten: das Birkenblättchen und ich. Ich war der einzige Augenzeuge, als es 150 Meter über dem Langensee vom Baume für immer herniederging und werde es in meiner Erinnerung behalten. Und das heisst: Wir können aus der menschlichen Gemeinschaft durchaus für Momente ins Private auswandern und selber bestimmen, was im Moment als wesentlich zu gelten hat. Jeder hat genügend Raum für seine eigenen Geschichten, für die eigene Zwiesprache mit der Welt um ihn und für die Ausflüge seiner Seele, wenn er nur will. Aber man muss wachen Sinnes heraustreten aus der Welt der Zwänge und Verhängtheiten. Dazu muss man nicht ein Studierter sein. Die Augen kann jeder offen halten, und sich dabei etwas denken auch, nur gehört dazu auch das Herz. La betulla heisst die Birke. Haben sie Ihre betulla schon gefunden?
Es muss nicht unbedingt eine betulla sein... Bis bald! Ihr Pankraz F.
(1) Überarbeitete Fassung meines Texte im „Fridolin“ Nr. 46, 18. November 1993
Foto: www.nies.ch
* * * * * * * *
"Ul prevading", "das Pfäffchen"
oder das "Weissfleck-Widderchen"
begleitete mich durchs Verzascatal
"Ul prevading" mit dem gelben Gürtel
oder
Das Pfäffchen im Verzascatal (1)
Zugegeben - ohne den Hinweis in der „Tessiner Zeitung“, ohne den touristisch auf- gemachten Prospekt und ohne die professionell hergestellte farbige Illustrierte dazu, hätte ich den „Sentiero per l’arte“ im Verzascatal niemals abgeschritten.
Er heisst: „Wanderweg für die Kunst ?“. Gibt es nicht schon genug Lehrpfade aller Art ? Hat nicht bald jedes Dorf irgend einen Pfad angelegt, damit die Touristen etwas zu tun haben, weil ihnen sonst nichts mehr einfällt ? - Könnte man vertreten. Dem kann ich mich aber in diesem Falle nicht anschliessen.
Der Gang, entlang der Verzasca (dem „grünen Wasser“, das dem Tal den Namen gab), war für mich wie eine Reise durch eine wundersame, unbekannte Welt. Ich ging ihn talwärts, mit dem Lauf des Wassers. Eingestiegen bin ich dort, wo die Strasse kurz vor Brione die Verzasca auf beachtlichem Viadukt überquert und nach einer Haarnadelkurve steil ansteigt. Die dortige Postautohaltestelle heisst „Ganne“.
Nur 4,5 Kilometer - keine Sache! Eine Stunde wohl ? Ich hatte über zwei Stunden: ein Weg wie ein Menschenleben! Um es aber gleich vorwegzunehmen, trotz der 32 auf die ganze Strecke verteilten Werke der 21 Künstler und Künstlerinnen gab es da viel mehr Natur als Kunst.
Kaum war ich in den schattigen Wald eingedrungen, öffnete sich eine kleine Lichtung. Links und rechts hatten fleissige Verzasceser Bauern Steinmauern errichtet. Ein frisches Lüftchen kühlte Hals und Stirn. Da surrte ein Insekt in die Szene, landete auf einer Schafgarbe und liess sich darauf federn, wippen und wiegen.
Der kleine Kerl war mehr schwarz als tiefblau, etwa 4 Zentimeter lang, ein Schmet-terling mit eleganten, schmalen blau-schwarzen Flügeln mit weissen Tupfen. Der deutliche, ebenso dunkle Rumpf war mit einem goldgelben etwa 4 Millimeter breiten Streifen umgürtet. Ich sprach mit ihm, damit er auf der Pflanze noch etwas sitzen bleibe und sich betrachten lasse. Wer so unerwartet auftaucht, will eine Botschaft vermitteln. Doch der unnahbare Bote klappte zwei-dreimal seine Flügel auf und nieder, dann hob er in weitem Bogen wieder ab und flog mir voraus. Von Zeit zu Zeit querte er wieder meinen Weg - in meiner Illusion immer der gleiche Begleiter.
In Wirklichkeit soll dieser Schmetterling in den Tessiner Tälern recht häufig vorkommen. So erfuhr ich am Tag darauf bei einem Kenner und suchte in den Buchhandlungen von Locarno und Bellinzona nach weiteren Informationen.
Die Einheimischen sagen ihm„Ul prevading!“, das „Pfärrerchen“ oder das „Pfäffchen“.
„il prete“ nennt ihm offenbar die italienische Literatur, „syntomis phegea“ ist sein wissen-schaftlicher Name, und in deutschen Nachschlagwerken kommt er als „Weissfleck-widderchen“ daher. (2) - Dieses muntere Bürschlein hatte sich mir mit seinem Charme aufgedrängt und den 21 Künstlerinnen und Künstlern die Schau gestohlen! Aber das hat ja wieder seinen tieferen Sinn. Das kleine Lebewesen übertrifft als belebte Schöpfung die ganze Umgebung mit dem granitenen Bergstöcken, den heruntergerollten Steinkolossen und die sie umrankende Pflanzenwelt - und damit auch die willkürlich hingesetzten Werke der Künstlerinnen und Künstler, die gewissermassen nur am Rande und nur punktuell mit der Natur mitspielen mochten.
Die Verzasca schäumte hier noch weiss. Sie erreichte tosend und rauschend weiter unten rötlich getönte, fast lachsfarbene gewaltige Steine, die aussahen wie ausgehäutete Elefantenleiber, die mit Kopf und Rüssel ins Wasser untergetaucht schienen. Später verlor sich das Rauschen und Tosen wieder und verstummte kurz vor Lavertezzo, wo das Wasser abgrundtief und im Schatten unheimlich dunkelgrün dräut, fast stillsteht und schweigt. Die unsägliche Stille machte den Bach zur Schlucht, in dessen Fluten und Tiefen in den letzten 33 Jahren 48 Menschen ertranken, Schwimmer, Taucher, Kanuten. Meine Knie zitterten beim behutsamen Überschreiten der kamelbuckligen Steinbrücke (Ponte di Salti), und mich fror beim Blick in die Tiefe. Unversehens hatten mich das Wasser und das traurige Schicksal meist 20-30 jähriger zu Tode Gekommener in den Bann gezogen, der ich doch gekommen war, den „Sentiero per l’arte“ abzuschreiten.
Doch, doch - ich habe sie gesehen, die Versuche der Künstler, Natur, Material und eigenes Können mit einer Botschaft zu verbinden: in einer Stele, in die Granitsteine integriert sind, im Spiel der Steine als ein Stück Wegpflaster, in den kleinen Metallrohren, durch die man das Wasser ausschnittweise betrachten konnte, in einer Pyramide aus Ortsgestein, in den als Mikroskulptur dargestellten Füsschen, in den bizarren Figuren und Formen, im Licht und Schattenspiel konstruierter Recycling-Materialien aus Glas und Holz, die wohl zehn Meter hoch aufgetürmt waren, im Asthaufen als Urbehausung, in den gelbbemalten Einkerbungen in oder in den runenhaften Metallzeichen auf Steinen oder Felsen, in den knallig gefärbten Plastic-Rahmdöschen, die wie Blumen aussahen, im flliegenden Ei oder in was auch immer... Sie sind lustig, originell, provozierend, verblüffend, manchmal naiv, teilweise zu gesucht.
Diese Kreationen erinnern an die Kunstrichtung von Land-Art in den USA, die in sechziger Jahren Ärgernis und Bewunderung auslöst hatten, weil sie mass- und grenzenlos waren. Die hiesigen Werke sind in einem Symposium entstanden und erst eigentlich durch die zündende Idee des einheimischen Bildhauers Giorgio Scarmi realisiert worden. Warum nicht ? Menschen haben die Tendenz, Zeichen zu setzen, wo etwas Besonderes passiert ist oder wo sie eine Botschaft konkretisieren oder gar symbolisieren wollen. Kreuzwege, Bildstöcke, Gedenksteine, Tafeln, Kreuze...Werbung hat sich dieses Zeichensetzen bis zum Gehtnichtmehr zu Nutze gemacht. Warum sollen nicht Künstler ihre Zeichen setzen oder gar nur spielen ? Alle diese Werke von Menschenhand werden irgendwann von der Natur wieder zurückgeführt, zerstört, in die ursprünglichen Stoffe rezykliert.
Und deswegen hatte auch „ul prevading“ das Recht mitzumischeln, als lebendiger Vertreter eines Teils der Schöpfung. Schmetterlinge haben entwicklungsgeschichtlich die Dinosaurier überlebt. Das zerbrechliche kleine Wesen hat die brachiale Kolossalität im wahrsten Sinne des Wortes überflügelt. Nur Gewaltlosigkeit und intelligente Anpassung gewährleisteten jene Leichtigkeit des Sein, die ein Überleben überhaupt möglich machte.
Zwei Tage später habe ich hoch über Brissago bei herrlichsten Wetter in der "Osteria Borei" die schöne weite Welt rund um den Lago Maggiore genossen. Was glauben Sie, wer mir beim genüsslichen Verzehr einer Tessiner Platte und beim Nippen am Boccolino mit Tessi- ner Merlot, fröhlich um die Ohren geflattert ist ? Sie wissen es - es war „ul prevading“, das „Pfäffchen“. Lassen Sie mir doch die Illusion, es sei das Pfäffchen vom Verzascatal gewesen!
Bis bald! Ihr Pankraz F.
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(1) Überarbeitete Fassung meines Text im "Fridolin" vom 30. Juli 1998
(2) Syntomis phegea = Weissfleck Widderchen, dieses (auch: Amata phegea) ist ein
Schmetterling (Nachtfalter) aus der Unterfamilie der Bärenspinnern (Arctiinae).
Siehe auch: https://de.wikipedia.org/wiki/Wei%C3%9Ffleck-Widderchen
Das Blumenmahl in Intragna
oder
Roosäbletter und Kapäziinerli (1)
Haben Sie auch schon Blumen gegessen ? Richtige Blumen, und zwar auf dem Teller serviert ? Mit Stumpf und Stiel ? Tönt seltsam, nicht ? Muss es aber nicht - wie die folgende Begebenheit zeigt.
Ausgangs Intragna, kurz nachdem das Onsernone-Tal vom Centovalli abschwenkt, und ehe man in kurvenreicher Strasse der kleinen Zollstation Comedo zustrebt, klebt ein Grotto am Hang. Dienstag und Mittwoch geschlossen zwar, aber offensichtlich auf Vordermann gebracht. Hübsch und stilgemäss restauriert. Die Sonne brennt senkrecht hernieder. Just das richtige Wetter, den Schatten zu suchen.
Durch ein enges Steinportal durchschreitet man das gemütliche, rustikale Restaurant und erreicht über ein paar Steintritte ein herrliches Gärtlein. Die Wegplatten führen zu schweren Holztischen und Bänken durch altrosafarbenes Kies. Schattenspendende Bäume verdunkeln den hellen Sommertag. Unmittelbar am Rande dieses Giardino fällt jäh eine Mauer wohl dreissig Meter tief in eine kühle Schlucht, aus der das anhaltende Geräusch eines zischenden Baches heraufdringt. Das Gärtchen wird auf der anderen Seite durch einen Felsen eingegrenzt, an dessen Fuss ein wackerer Steinbrunnen geschaffen wurde, in dem sich derzeit wohl zwanzig Forellen tummeln. Aus einer Höhe von wohl 5-6 Metern rinnt das Wasser auf dem Felsen und plätschert in den Brunnen.
Die Speisekarte - ein grünes, steifes Mordspapier im A 3-Format - ist schnörkelhaft von Hand geschrieben und zweisprachig abgefasst. Zum Beispiel: "Il piatto verde: Zartes Hähnchenbrust-Spiesschen al peperoncino mit grünen Rohkostsalaten". Warum nicht ? Bei dieser Hitze ? Bedienung durch "Barbara" in gepflegtem Hochdeutsch. Sehr bald trägt sie eine Platte auf mit dem leckeren Hähnchenbrust-Spiesschen, das von zahlreichen Häppchen verschiedenster Salate eingekreist ist: Lollo, Rucula, Kohlrabi, Rettich, Peperoni, Bohnen, Blumenkohl, Kabis, Rosmarin, reichlich Kümmel sowie Sonnenblumenkerne und allerhand andere Sorten, die Kernlibeisser mögen. Das Ganze ist zwar ein schöner und gepflegter Anblick für das Auge, unterscheidet sich aber nicht besonders von anderen Sommergerichten. Erwartungsgemäss sind ein auserlesenes Öl und etwas Balsamico Essig beigegeben. Premiere für mich sind jedoch die liebevoll auf die verschiedenen Häppchen gelegten Blumen: Zartrosafarbene Rosenblätter, lila-bläuliche Kleeblümchen, goldgelber Hornklee und am auffälligsten orange-farbene Kapuzinerli !
Erst halte ich diese Präsentation für besonders originell und hübsch, bis ich aufgefordert werde, mit Essen zu beginnen und meine Meinung über den Gout der Blümchen abzugeben. Waaas ? Ich bin doch keine Klee-Kuh ! Soweit kommt es noch, dass ich Klee (fr)esse. Dann kann ich geradesogut auf der Baumgarten-Alp übersömmern. Man hat nie ausgelernt. Die aufgeklärten und sachverständigen Leserinnen und Leser mögen mir verzeihen! So futtere ich denn gespannt und noch etwas zaghaft die ersten Blüten dieses Blumengebindes. Kapuziinerli? Mmmmh! Klee ? Oooo! Rosenblätter ? Waoou! Am besten mit ganz wenig Kabis. Ich weiss wohl wie Rosen duften, aber schmecken ? Das ist ein wirkliches Schlüsselerlebnis! Aber warum eigentlich nicht. Meine Herren, wenn Sie Ihrer Frau das nächste Mal Rosen schenken, achten Sie auf die Doppelverwertung. Ihre Frau wird Ihre Liebesbezeugung erwidern und Ihnen, ehe sie verwelken, Rosenblätter auf den Salat legen. Naja, damit kann sich zwar ein normaler Glarner nicht anfreunden, werden Sie einwenden, getreulich nach dem Motto. "Liäber ä Luus äm Chruut, as gaar kä Fläisch." Habe ich auch immer gesagt. Bisher...
Freilich werden die Blumenläden nicht befürchten müssen, ihre Rosenecken würden leergefegt. Auch die Restaurateure werden weiterhin ein Röschen auf den Tisch stellen dürfen, ohne dass dieses von gefrässigen Gästen verschlungen wird.
Das Hippie-Mahl von Intragna wurde allerdings noch mit einer Leckerei abgerundet, die dem ganzen noch die Krone aufsetzte. Zum Dessert gab's "Prugne al vino rosso e gelato di cannella" oder "Pflaumen in Rotwein gedämpft, Zimteis mit Pinienbeeren". Dass man den Pflaumen noch ein Nägeli eingepflanzt hat, lässt sich der Gaumen ganz gerne gefallen. Auch wenn's diesmal nicht die typischen Tessiner-Kulinarien wie Risotto ai funghi oder ein Osso buco mit Polenta sind, das Grotto du Rii (2), so nennt sich die Osteria, ist ein fast so dicker Fisch wie der am Eingang abgebildete, den der Besitzer in Alaska gefangen hatte.
Versuchen Sie es doch auch einmal! Sag's mit Blumen, nein, iss sie! Die Flower-Power wird gewiss nicht so grassieren, dass Sie ihre Blumerngärten vergittern müssen.
Bis bald! Ihr Pankraz F.
19. Mai 2016 / 3
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1) Überarbeitete Fassung meines Textes im "Fridolin" Nr. 30 vom 27. Juli 1995
2) siehe: http://www.grottodurii.ch
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Auf dem Berg der Dinosaurier (1)
oder
Warum der Lago di Lugano den Monte San Giorgio umarmt...(2)
Der Luganersee hat alle Grund, den Monte San Giorgio zu umarmen. Der linke Arm reicht in Richtung Mendrisio bis Capolago, Riva San Vitale an der Hand, der rechte bis Porto Ceresio, Morcote am Arm und über Eck Ponte Tresa im Schlepptau. Mitten drin ragt der bucklig-behäbige Sankt Georgsberg 1097 Meter in die Höhe, gut und gerne 800 Meter über dem Seespiegel.
Der umarmte Koloss ist nämlich seit einem Jahr zu hohen Ehren gekommen. Er wurde in die Liste der Kultur- und Naturgüter als UNESCO-Welterbe aufgenommen. Vor ihm erfuhren diese Auszeichnung das Kloster St. Gallen, das Kloster St. Johann Müstair GR, die Berner Altstadt, die Schlösser von Bellinzona und als Naturgut das Gebiet Jungfrau-Aletsch-Bietschhorn. Durch diese Aufnahme werden die Objekte zum ideellen Besitz der Menschheit, für dessen Erhaltung die internationale Staatengemeinschaft zusammenarbeiten müsse. So erklärte das Bundesamt für Umwelt, Wald und Landwirtschaft (BUWAL).
Aber was ist denn Besonderes an diesem Berg, was andere nicht auch haben? Er ist ein gewaltiges Naturmuseum. Seit den fünfziger Jahren wird sein Wald naturbelassen und das Holz nicht mehr genutzt. Seit 1974 ist das Gebiet kantonal geschützt, seit 1977 ins Bundesinventar der Landschaften und Naturdenkmäler von nationaler Bedeutung aufgenommen und seit 2003 Welterbe.
Sein weltweit ungewöhnlicher Wert liegt in den hier sichtbaren 230 bis 245 Millionen Jahre alten Gesteinsschichten und den darin gefundenen wohl 10000 Fossilien, darunter 30 Reptilien, 80 Fischarten, etwa 100 Arten wirbellose Tiere und zahlreiche Mikrofossilien. 150 Jahre schon wird hier geforscht. Professoren der Universitätsinstitute von Mailand und Zürich gruben hier und wollten der Ökologie von damals auf die Spur kommen. Wer auf dem Monte San Giorgio steht, hätte sich vor 230 Millionen Jahren, das Zeitalter heisst „Trias“, auf dem Meeresgrund befunden, einem rund 100 Meter tiefen Meerbecken von mindestens 20 Kilometern Durchmesser. Es sei durch Riffe und Kalksandbarren vom offenen Meer abgetrennt gewesen. Sauerstoffmangel auf dem Grund des Meeresbeckens hätte verhindert, dass die absinkenden Lebewesen und Pflanzen verwest, sondern in hervorragend konserviert worden seien. Diese Schichten hätten sich verfestigt und seien in grossen geologischen Umwälzungen und Brüchen zu neuen Landschaftsformen angehoben und steilgestellt worden. Diese Vorgänge könne heute am Monte San Giorgio nachgewiesen werden. Die ausgegrabenen Versteinerungen mit Sauriern messen bis sechs Meter. Sie sind in den Museen von Mailand, Lugano und Zürich zu sehen. In Méride, einige Kilometer nordwestlich von Mendrisio an der Strasse nach Serpiano, ist ein kleines „Museo dei fossili“ mit Beispielen, Originalen und Abdrücken zugänglich.(3)
Ausserdem wurde ein Naturlehrpfad geschaffen, der in zehn Stationen mit Tafeln in Wort und Bild die Geologie, Flora und Fauna erklärt. Natürlich lässt sich der Berg nur in schweisstreibender Anstrengung meist im Wald und auf einem gepflästerten steilen, aber breiten Saumweg erklimmen, der früher über den grossen Buckel von Méride nach Serpiano führte. Eine reiche Vegetation, die Stille, die Geräusche und Gerüche des Waldes begleiten einem. Je tiefer man in die Geheimnisse dieser Landschaft eindringt, desto mehr lassen sie sich verinnerlichen. Der Berg ist auch voller Überraschungen.
Einst hausten in dieser Einsamkeit Einsiedler. Der bekannteste ist Manfredo Settala, ein adliger Mailänder. Seine Verehrung ist in Riva San Vitale seit dem 14. Jahrhundert nachgewiesen. Gestorben soll er 1217 sein. Legenden erhielten sein Gedächtnis wach. Zum einen sollen die Glocken, ohne menschliches Zutun, seinen Tod angekündigt haben, zum andern hätten sich die Leute von Méride und Riva San Vitale um seinen Leichnam gestritten. Als „Gottesgericht“ hätte man zwei Ochsen vor den Schlitten mit der Leiche gespannt und ihnen überlassen, wohin sie ziehen. Sie hätten Riva San Vitale zugestrebt, was die Leute von Méride angeblich bis heute nicht verschmerzt hätten. Die sterblichen Reste des Eremiten ruhten noch in der Mensa des Hochaltares und würden jeweils am 27. Januar und am darauffolgenden Sonntag verehrt und dem Volk gezeigt. Auch spätere Eremiten sind erwähnt. Noch 1770 sei die Einsiedelei von Bruder Giovanni Antonio Borgna aus Montaglio-Valtravaglia betreut worden.
Zu erwähnen ist die kleine St. Hubertuskapelle auf der Cassina (902 m). Sie wurde in Frondienst unter Anleitung des Baumeisters Dante Peverelli erbaut. Angebaut ist ein kleiner Schutzraum mit Feuerstelle, Tisch und Bank. Die gleiche Mannschaft hätte auch das St. Georgs-Kirchlein auf dem Gipfel erneuert.
Gespenstisch sind im Schatten des Mischwaldes aus Kastanienbäumen, Eichen, Buchen, Ahorn, gelegentlich gar eines Nadelbaumes und vielfältiger Sträucher die vom Sturm zu Boden gebogenen Kastanienbäum, die von weitem wie grasende Dinosaurier aussehen. Unter den vielen Schmetterlingen fällt ein fast schwarzer mit weisser Zeichnung auf. Die Heugümper haben ein schwarzgrünes Chassis. Und hoch auf dem Grat, wo Magerwiesen kleine Lichtungen vom Wald umringt sind, zirpen die Grillen und in den Wipfeln zwitschern vielerlei Vögel.
Menschen begegnet man kaum. Beim Abstieg gegen Serpiano tut sich plötzlich eine traumhaft schöne Aussicht auf gegen Morcote. Die kleinen Schiffe ziehen ihre Striemen auf der Wasseroberfläche, und die Sicht ist so klar, dass man die Fenster und Lauben der Häuser in Morcote zählen könnte. Atemberaubend ist der Blick auf den Damm von Melide, das entfernte Lugano, den Monte Bré, den San Salvatore, den Monte Lema und in der Ferne die weissen Bergriesen der Alpen. Das bedrohliche Piepsen zweier Mäusebussarde, die ihre Kreise ziehen und den Mäusen rufen, bricht die Stille.
Beim „Steinbruch“ sind die Schichten besonders schön sichtbar. Hier wurde früher „Saurol“ aus bituminösem Stein gewonnen und eine Heilsalbe hergestellt.Der Rückmarsch nach Meride zieht sich durch den Wald jenseits der Strasse nach Serpiano, führt über offene Wiesen mit kleinen Kornfeldern. Das Düüdäädoo der Postautos und das Brummen der Autos von der Strasse und der noch erhaltene Fabrikschlot der ehemaligen Saurolfabrik künden an, dass man sich der Zivilisation wieder nähert.
Der Marsch dauert vielleicht zweieinhalb bis drei Stunden. Das Innehalten, Schauen, Staunen und Lauschen kennt keine Uhr.
Der Weltwoche-Redaktor und Publizist Willi Wottreng schrieb am Ende seiner Abhandlung „Fische im Berg“: „Schade nur, dass sich niemand vorstellen kann, wie viel Zeit Millionen Jahre sind.“ Was soll‘s? Wer mit offenen Sinnen den Berg angeht und seine Kraft und Vergangenheit wahrnimmt, kehrt reicher wieder.
Bis bald! Ihr Pankraz F (4).
12. Mai 2016 / 2
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1) Überarbeitete Fassung meines publizierten Textes im „Fridolin“ 22. Juli 2004.
2) http://www.ticino.ch/de/commons/details/Fest-des-Seligen-Manfredo-Settala/29770.html
3) http://www.montesangiorgio.org/de/
4) Siehe auch: http://www.unipublic.uzh.ch/archiv/magazin/umwelt/2000/0043/wottreng.html
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Auf den Spuren der Kaminfeger
oder
Spazzacamini sono Vigezzini (1)
Sie galten als Glücksbringer – die schwarzen Männer auf dem Velo, mit Besen, Leiter, Kratzeisen, Sonne und im Zylinder. Die einstigen Neujahrkärtchen trugen als beliebte Motive neben Hufeisen, Schweinchen, Kleeblättern insbesondere lustige, lächelnde Kaminfeger. Als es noch richtige Schornsteine gab und man mit Holz heizte, kochte und im Kamin Fleisch räuchte, war der Kaminfeger jährlich einmal zu Gast, „fegte“ das Kamin und sorgte dafür, dass das „Loch“ wieder zog und Kaminbrände möglichst verhütet wurden. Dazu gab’s noch die „Feuerschau“, eine vom Gemeinderat bestimmte Zweierdelegation eines Behördenmitgliedes und des Dorfkaminfegers. Sie guckten, nicht immer zu Freude der Hausfrauen in Herd und Ofen und räumten nicht geleerte Bürdeliöfen aus, um die Heizungs- und Kocheinrichtungen auf Sicherheit und Tauglichkeit prüfen zu können. Der Kaminfeger war eine Persönlichkeit im Dorf, der recht intimen Einblick in jedermanns Haus und Privatsphäre hatte. Mit dem Fortschritt der Technik wurden ganze Regelwerke von Vorschriften und Bestimmungen geschaffen, und die Kaminfeger zu hochspezialisierten Fachleuten ausgebildet, die kaum mehr mit den Schornsteinfegern von damals zu vergleichen sind.
„Chäämifääger, schwaarzä Maa; / hätt ä ruässig Hämpäli aa, / ninnt dr Lumpä und dr Schtumpä, / macht di böösä Wiiber z gumpä!“ so sangen wir noch als Kinder, genau so wie „Rooti Röösli im Gaartä,...“ oder „Dr Tängälimaa..halii-haloo, dr Tängälimaa..“
Alles hat aber einen Hintergrund. Wer auf der serpentinenreichen, schmalen Strasse oder mit der Centovallibahn von Locarno nach Domodossola reist, trifft nach der Grenze im Valle Vigezzo auf das schmucke Dorf Santa Maria Maggiore mit einer kunstreichen Kirche und historischen Gassen (2). Rückseitig der Kirche, angrenzend an einen breiten, schattigen Park befindet sich in einem winzigen Bau der Villa Antonia das Schornsteinfegermuseum (3). „In Italien einzig und gesamteuropäisch eines der ungewöhnlichsten“, verspricht der Prospekt. Da findet man da Kaminfegerklamotten, Kaminfeger-Gerätschaften, Velos, Leitern, Sägen, reiches Bildmaterial, Hinweise auf Literatur und Bücher, Seile, Ketten...Berichte von internationalen Kaminfegertreffen am Orte, Wimpel von Innungen und Kaminfegervereinigungen aus ganz Europa. Alles ist auf kleinstem Raum liebevoll ausgestellt. Das hat man als Laie relativ rasch betrachtet.
Was einem aber ans Herz geht, ist die Geschichte der ersten Kaminfegerbuben aus der Gegend. Benito Mazzi bringt in seinem Buch „Hunger, Russ und Kälte“ eine Dokumentation der Schornsteinfeger aus dem Aosta-, Orco-, Cannobina-, Vigezzo- und dem Verzasca- und Maggiatal kommt in Bild und Text eine himmeltraurige Epoche menschlicher Schicksale ans Tageslicht. Bekannt ist die Geschichte des kleinen Kaminfegerbuben Giorgio aus dem Verzascatal und seinen Freunden ( Lisa Tetzner: Die schwarzen Brüder, Unionsverlag TB Nr. 1011 oder Carlsen TB 125.)
Sie kamen von Not und Armut getrieben aus den genannten Bergtälern in die Poebene, um in Herrschaftshäusern zu dienen. Aegidius Tschudi berichtet darüber bereits anno 1538: „Im Val Vigezzo sind alle Schornsteinfeger, und sie wandern nach Neapel, Sizilien, Frankreich und Deutschland aus“. Nur acht Jahre später schreibt Johannes Stumpf, fast alle durch Europa ziehenden Schornsteinfeger kämen aus dem Val Vigezzo, das als „Kaminfegertal“ bekannt sei. Die düstere Seite an diesen Auswandererschicksalen sind die vielen ausgebeuteten Kinder. Hunderte von sechs- und siebenjährige Kinder, möglichst magere, unscheinbare Bürschchen, die leicht die russschwarzen Kaminschlünde hinaufkrochen und auf den Dächern keine Ziegel zertrampten, wurden von „Padroni“ angeheuert, miserabel oder überhaupt nicht bezahlt, kaum ernährt, dass sie so dünn blieben; vor allem zwischen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis etwa zu den zwanziger und dreissiger Jahre des 20. Jahrhunderts. Ihre missliche Lage zwang die Eltern ihre Kinder herzugeben. „Wir verdienten das Geld und das Brot für unsere Arbeitgeber“ berichtet ein Betroffener „Mit unseren kleinen Händen mussten wir die russgeschwärzten Wände des Kamins sauber kratzen und bis nach oben klettern...“ Ungehorsamen Kindern wurde gedroht: „Wenn du nicht artig bist, musst du als Schornsteinfeger arbeiten gehen!“
Die Buben trugen nur Lumpen„schwarze, oben enge Jacken mit am Handgelenk zusammengebundenen Ärmeln, damit der Russ nicht eindringen sollte.., schwarze Baumwollhosen, mit aufgesetzten Stoffstücken am Hinterteil, an den Knien und Ellenbogen; denn das waren die Stellen, die am meisten abgenutzt wurden..., zur Arbeitskleidung gehörte auch eine völlig geschlossene, sackförmige Leinenmütze, die Augen und Mund verschloss und am engen Jackenkragen endete, damit der Russ nicht eindringen konnte. Das Gewebe dieser Mütze diente als Filter und verhinderte mindestens teilweise, dass die Jungen schädliche Stoffe einatmeten. Die Augen waren völlig verbunden, denn im Kamin brauchte man nicht zu sehen: Man tastete sich mit den Händen voran und kratzte den Russ mit der Raspel“...
Erschütternde Abschiedsszenen und traurige Schicksale dieser Kinder, die ein Sklaven- und Bettlerleben führen mussten, sind im erwähnten Report zahlreich zu finden.
In Italien kümmerten sich später Nonnen und kirchliche Institutionen um die schier rechtlosen Kaminfeger. Daher stammte die jeweilige Frage an die Auswanderer: „Dieses Jahr Zylinder oder Priester?“. Mit „Zylinder“ waren die schweizerischen Verhältnisse gemeint, weil dort die Kaminfeger bei der Arbeit einen Zylinder trugen. In Oberitalien hingegen waren mit dem Begriff „Priester“ die Wohlfahrtseinrichtungen für Kaminfeger gemeint, die von Geistlichern geleitet wurden. Später bildeten sich Innungen und Genossenschaften, die die Rechte der Kaminfeger formulierten und durchzusetzen suchten. Heute gibt es in Santa Maria Maggiore ein jährliches Treffen
der Kaminfeger aus ganz Europa anfangs September. Immer zahlreicher sind auch Frauen in diesem Metier tätig.
Die katholische Kirche hat, vielleicht um die gesamte Berufskategorie für die erlittenen Misshandlungen und Leiden zu „mitzuentschädigen“, einen Schornsteinfeger 1985 selig gesprochen. Es handelt sich um Peter Friedhofen (1819-1860), der in Deutschland sein Handwerk ausübte und eine Kongregation der Barmherzigen Brüder zur Betreuung Kranker ins Leben gerufen hatte. Er starb 41-jährig an Tuberkulose.
Wer würde bei den heutigen, stolzen Kaminfegerunternehmungen noch ahnen, welch trauriges Los einst das Berufsbild prägte?! Wir verwöhnten Kinder der Wohlstandsgesellschaft haben keine Ahnung mehr von den Auswandererschicksalen armer Bergtäler. Dabei hätten wir im Land Glarus selber Auswanderergeschichten und Epochen himmelschreiender Armut... Dennoch, wer einmal Gelegenheit hat, in Santa Maria Maggiore vorbeizufahren, ein Blick ins Museum würde sich lohnen, nicht unbedingt wegen der Ausstellung, aber wegen der Geschichten, die dahinter stehen. Und ausserdem: Black is beautiful!
Bis bald! Ihr Pankraz
F.
5. Mai 2016 / 1
PS: Aus dieser Gegend stammten die Erfinder des Kölnisch Wasser, des Schnupftabaks, der Warmluftheizung (Pietro De Zanna, 1779), und Giovanni Pietro Jelmoli, der 1834 den Verswandhandel und 1896 das Warenhaus Jelmoli gründete. 1817 flüchtete Giovanni Mario Soldati aus einem englischen Lager und durchschwamm als erster den Ärmelkanal.
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(1) Überarbeitete Fassung meiner Kolumne im „Fridolin“ vom 5. September 2002.
(2) Martin Steiner: Das grüne Tal zwischen Domodossola und locarno, NZZ 22.3.2001.
Abgerufen 4. Mai 2016, http://www.nzz.ch/article79J5Q-1.478592
(3) Das Museum des Kaminfegers. Abgerufen 4. Mai 2016,
www.distrettolaghi.it/de/luoghi/das-museum-vom-schornsteinfeger
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"Agätäbroot und Füürälihäiss"
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Dunschtig, 21. Novämber 2024
Erfolg isch we-nä Chlätterpartii,
zoberscht isch d Uussicht herrli, abr gfäährli, wägem abägkiijä.
Novämber oder Winter-Munet
Wänn dä d Novämbertääg da sind, gitt's nuch gag-gäärä schtürmisch Wind.